ZWÖLF

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Den Freitagabend verbrachte ich alleine in meinem Zimmer und grübelte, was ich Finn schreiben sollte. Bis heute Nachmittag war das völlig klar und logisch, dass ich mich bei ihm für den Tipp mit dem Tanzprojekt bedanken sollte. Doch nun hatten sich die Prioritäten verschoben: ich musste Finn bitten, das Video zu löschen. Und meine Bitte musste so formuliert sein, dass er es als unmissverständliche Aufforderung verstand. Nur kriegte ich das nicht hin. Mein Mülleimer füllte sich Schicht um Schicht mit zerrissenem Papier, weil alles, was ich aufs Blatt bekam zu freundlich war und klang als hätte er eine Wahl. Die hatte er aber nicht. Weil ich keine hatte.
Nach Mitternacht gab ich schließlich auf und legte emotional erschöpft den Kopf auf den Tisch. Warum tat er mir das an, ein Video zu posten, wenn er nicht wusste, welche Probleme für mich daraus erwuchsen?
Schließlich hob ich den Kopf. Das war es.
Finn,
Du musst das Video löschen. Sofort!
Anna

Zweifel beschlichen mich, als ich morgens mit meinem Wäschekorb an dem Briefkasten vorbeilief, in den ich am Abend einer spontanen Eingebung folgend den Umschlag gesteckt hatte. Besser hätte ich mich nicht so kurzgefasst.
Diese Zweifel verstärkten sich, während ein Tag nach dem anderen verstrich, ohne dass ich eine Antwort erhielt oder das Video verschwand. Im Gegenteil: Klicks und Likes stiegen immer weiter und allmählich stieg mein Paniklevel. Um meine Nervosität zu kontrollieren, biss ich ununterbrochen auf meinen Nägeln herum. Obwohl Davis mir das Kauen abgewöhnt hatte, indem er gewaltsam meine Nägel mit bitterem Nagellack bestrich, war jetzt jeder Fussel abgenagt, der über die Kuppe stand und mein Nagelbett blutete an manchen Stellen. Als am Donnerstag mein Handy klingelte, während ich zum tausendsten Mal YouTube checkte und keine Veränderung feststellte, warf ich vor Schreck mein Handy weg.
Eine unbekannte Nummer leuchtete mir vom Boden entgegen und mit zittrigen Fingern strich ich über das Display.
„Anna? Hey! Schön, dass ich dich gleich erreiche. Hier ist Zoe. Ich wollte nur fragen, ob du noch immer Interesse hast, dann könntest du Samstag vorbeikommen. Vielleicht gegen halb drei. Wir haben um vier eine Kindergruppe und dann können wir vorher die Choreo ein paar Mal durchmachen, die du den Mädchen beibringen sollst."
„Wie beibringen? Ich? Alleine?"
Die Vorstellung schockierte mich dermaßen, dass ich keinen geraden Satz mehr hervorbrachte. Zoe beruhigte mich aber sofort, indem sie lachend erklärte: „Nein, natürlich nicht alleine. Das wäre für den Anfang wirklich zu viel des Guten. Jemand von uns wird in der Nähe sein, falls du nicht klarkommst."
Erleichtert atmete ich auf. „Gut, dann halb drei am Samstag", bestätigte ich Zoe und als sie auflegte, warf ich das Handy aufs Bett und presste beide Fäuste vor den Mund um mein Quieken zu dämpfen. Ich hatte ein Projekt!
In einem wahren Hochgefühl verflog der Freitag wie Rauch im Wind. Am Abend, als Stella das Zimmer verließ, senkte sich allerdings Besorgnis wie Blei über mich. Letzte Woche war ich nur verärgert, weil Finn meine Privatsphäre missachtet hatte. Dass ich eine knappe Woche nichts von ihm gehört hatte und er nicht auf meine Aufforderung reagierte, verunsicherte mich zu tiefst.
Das Beste wäre gewesen, Finn zu schreiben, ihm die vertrackte Situation zwischen Davis und mir zu erklären und ihn zu bitten, nicht Öl in ein Feuer zu gießen, das ohnehin nie erlosch. Der springende Punkt, warum ich matt auf meinem Bett saß, statt den Stift zu zücken, war, dass ich nicht keinen Ansatz fand, wie ich alles erklären sollte, ohne Davis' größten Kummer ans Licht zu zerren: seine Schwester und seine Mutter waren tot und hatten einen zornigen Teenager zurückgelassen, der sich nur dann lebendig fühlte, wenn er anderen Schmerz zufügte.
Langsam zog ich die Decke hoch und presste sie wie einen Schutzschild gegen meine Brust, die sich bei dem Gedanken an Davis Verlust jedes Mal vor Mitleid zusammenzog, obwohl er dieses Gefühl nicht verdient hatte. Ich hätte ihn unglaublich gerne gehasst, wenn dadurch seine falschen Anschuldigungen ungesagt blieben und seine Demütigungen ungeschehen. Wenn die Narbe auf meiner Seele und die in meinem Gesicht verschwunden wären und die beiden am besten gleich die roten Haare und die beschissene Brille mitgenommen hätten.
Nichts dergleichen passierte: Die Vergangenheit änderte sich nicht, egal, wie inbrünstig ich es mir für meine Zukunft wünschte oder die von Davis.
Dass ich über all die fruchtlosen Gedanken einschlief, erstaunte mich am folgenden Morgen selbst. Stella schnarchte selig in ihrem Bett. Ich war nicht einmal aufgewacht, als sie nach Hause kam.
Mit zwei Taschen bewaffnet, brachte ich den Einkauf hinter mich. Dann legte ich das Protokoll für das Projekt in einer Datei auf meinem eigens dafür gekauften USB-Stick an und machte mich überpünktlich auf den Weg ins FSDP.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt