FÜNFUNDSECHZIG

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„Alles okay bei dir?", erkundigte sich Davis zum ich-habe-keine Ahnung-wievielten Mal, seit Carter uns abgeholt hatte. Letzterer war nicht begeistert davon, Davis im Auto sitzen zu haben. Die zwei konnten sich vom ersten Tag an nicht riechen. Wenn Carter gewusst hätte, dass mein Augenproblem und die Narbe auf die Panikattacke meines Stiefbruders, erwischt zu werden, zurückzuführen waren, hätte er ihn mitten auf dem Highway aus seinem fahrenden Wagen geworfen. Mit Anlauf.

Meine Antwort war, seit Carter das Auto angelassen hatte, ein und dieselbe, wenn auch mein Ton sich um ein paar Nuancen in Richtung gestresst verschoben hatte.

„Ja, klar. Nur noch immer krank und müde."

Und nach wie vor schrecklich verliebt in Ian. Wie auch nicht? Er hatte mir Hühnersuppe gekocht! Mir Medikamente gebracht und Taschentücher. Das war schon sehr süß. Ein bisschen wünschte ich, ich hätte es annehmen können, ohne mir Sorgen über mögliche Hintergedanken zu machen. Die würde ich in Zukunft immer haben, gestand ich mir ein, während ich aus dem Fenster heraus die vorbeiziehende Landschaft beobachtete. Ian gegenüber wieder frei und unbedarft zu sein, dürfte kaum mehr möglich sein. Es war richtig gewesen ihn wegzuschicken. Trotzdem fragte sich ein Teil von mir schon seit vielen Meilen, was passiert wäre, wenn ich ihn nicht gebeten hätte zu gehen. Hätte er mich geküsst? Hätten wir dort weitermachen können, wo wir standen, als ich die Briefe gefunden hatte? Bevor ich rausgefunden hatte, dass Finn nie existiert hatte? Ein sehr einfältiger und kurzsichtiger Teil wünschte es sich.

„Wir sitzen sowas von in der Scheiße, wenn das hier nichts bringt", murmelte ich leise, damit Carter nicht mitbekam, dass Davis und mir das Wasser bis zum Halse stand. Davis sagte kein Wort dazu. Musste er auch nicht. Sein Blick war Bestätigung genug. Mit meinem Satz hatte ich vollumfänglich ausgedrückt, was wir beide wissen: wenn Davis sein Stipendium verlor, war er gezwungen, das College zu verlassen. Für mich war es mit Stipendium schon hart, über die Runden zu kommen, aber ohne hatte Davis keine Chance, das College abzuschließen.

„Verdammt hör endlich auf damit!", fauchte ich und riss Davis Hand von seiner Jeans. „Das nervt!"

„Fahr deine Krallen ein, Anna!" Davis schlug meine Hand weg.

Carter lachte.

„Wenn man euch beobachtet, könnte man meinen, ihr wärt wirklich Geschwister."

„Schön, wenn sie Spaß haben, Sir", murrte ich verärgert und starrte wieder aus dem Fenster. Gerne würde ich mich wieder so mies fühlen wie gestern, ins Bett kriechen, schlafen, alles vergessen. Heute war mir das leider nicht mehr vergönnt. Pausenlos drehten sich meine Gedanken um ein und dieselbe Frage: was tun wir, wenn eine OP Davis nicht helfen konnte? Unser Erspartes war unwiederbringlich verloren!

Nervlich am Ende und mit steifen Gliedern vom langen Sitzen erreichten wir nach einer Ewigkeit den Stützpunkt. An einer Zufahrt stoppte Carter den Wagen und begrüßte den wachhabenden GI äußerst herzlich mit einem „Hey Conny! Was geht?" Mit der Waffe und der Uniform sah Conny sehr männlich und gefährlich aus, auch wenn sein Gesicht freundlich wirkte, als er sich vorbeugte und durch die Scheibe lugte.

„Papiere?", erkundigte sich der Mann, an dessen Brusttasche der Name Connelly eingestickt war. Carter nickte und reichte ihm meine Unterlagen durchs Fenster.

„Die Anfrage für den da ist heute Morgen erst gelaufen. Sollte aber inzwischen durch sein", erklärte Carter und warf mir einen grimmigen Blick zu. „Hab so gegen sieben mit dem Doc gesprochen. Sie wollte nicht ohne ihren Bruder herkommen."

„Ihre Instinkte scheinen gut zu sein. Ein hübsches Mädchen mit dir allein ist nie eine gute Idee." Conny grinste frech.

„Halt bloß Deine blöde Fresse!", drohte ihm Carter und lachte. Davis neben mir verdrehte die Augen über die Ausdrucksweise von Carter.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt