VIERUNDZWANZIG

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Der Montagmorgen lief überraschend reibungslos. Stella begleitete mich ins Büro, wo ich meldete, dass meine Sehhilfe beschädigt war und ich bis auf weiteres keine Mitschriften machen konnte.

Von der diensthabenden Sekretärin erhielt ich daraufhin wie erhofft die Genehmigung die Vorlesungen elektronisch zu speichern und musste unterschreiben, die Mitschnitte zu löschen, sobald ich Niederschriften angefertigt hatte. Etwas zu unterschreiben, das ich vorher nicht lesen konnte, stimmte mich bedenklich. Stella murmelte aber neben mir: „Mach schon. Das passt so."

Nach dieser Aufforderung male ich meinen Namen an den unteren Rand des Papieres.

So verstrich Stunde um Stunde, ohne dass ich, außer gut zuzuhören, etwas tun musste. Da sich die Sonne den Himmel zurückerkämpft hatte und es die folgenden Tage nicht wolkenverhangen war, fand ich mich anhand der klaren Farben überraschend gut auf dem Campus zurecht.

Was mich übernervös stimmte, war aber die Tatsache, dass ich Donnerstag das Gelände verlassen und in Ians Begleitung zum Optiker musste. Eine neue Brille war immer Aufregung genug, da ich jedes Mal die Katze im Sack kaufte und nie sehen konnte, wie ein Gestell an mir aussah, bevor ich mich nicht durch Gläser der passenden Stärke im Spiegel betrachtete. In diesem Falle war es noch überraschender, weil ich das Gestell nicht einmal in meiner Hand sehen konnte. Ich wusste, dass es anthrazitgrau war und einen breiten glänzenden Kunststoffrahmen hatte. Dass Ian Zeuge des heiklen Momentes wurde, in dem meine Brille und ich uns bekanntmachten, stimmte mich unfroh. Krampfhaft um Optimismus bemüht, betrat ich schließlich den Laden an Ians Seite.

Freundlich begrüßte uns eine Frau. Der Stimme nach ordnete ich sie als älteres Semester und langjährige Raucherin ein. Ich nannte ihr auf Nachfrage meinen Namen und das Geburtsdatum und sie bat uns, Platz zu nehmen, während sie die Brille für mich holen würde.

Ein wenig ratlos stand ich am Tresen und Ian murrte neben mir: „Wo hat die ihre Ausbildung gemacht? Sie müsste wissen, dass du nichts siehst!"

Wie schon unzählige Male zuvor, umfasste Ian meinen Ellbogen und führte mich. Dann rückte er einen Stuhl zurecht und ich setzte mich.

„Danke", murmelte ich und starrte auf meine Finger, die in meinem Schoß lagen.

„Schon gut", brummte er etwas unwirsch.

„Keine Sorge, ich bilde mir nichts drauf ein", maulte ich ihn an.

„Dann ist es ja gut, Rotschopf", gab er ebenso pampig zurück.

„Eigentlich musst du nicht warten. Nach Hause komm ich alleine, wenn ich meine Brille habe."

Einen Augenblick war Ian still.

„Stimmt", bestätigte er meine Annahme. „Man sieht sich, Anna."

„Bye, Ian!", giftete ich leise. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten und versuchte zu begreifen, was zur Hölle mich geritten hatte, dermaßen zickig zu sein. War sonst auch nicht meine Art. Nur war ich schrecklich nervös und die Vorstellung, dass Ian sich zwang hier zu sein, obwohl er lieber woanders wäre, fand ich furchtbar.

„Ian?", fragte ich lauter als nötig und mit einem leicht panischen Unterton.

„Hm?", erklang es viel näher als ich erwartet hätte.

„Tut mir leid. Ich wollte nicht..."

„Schon gut, Anna. Du bist nervös." Ian drückte sanft meine Schulter. Eine Geste, die ich von Stella schon kannte. Bei Ian fühlte sie sich anders an. Um vieles intimer. Seine Hand lag noch immer auf meiner Schulter, als die Dame von Tresen endlich zurückkehrt.

„So, Mrs. Sullivan, hier haben wir das gute Stück."

Leise raschelnd öffnete die Optikerin eine Verpackung, dann setzte sie mir die Brille auf die Nase.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt