SECHSUNDZWANZIG

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Am Abend kuschelte ich mich in meinen Jumpsuit aus Fleece und suchte mir flauschige Socken, dann legte ich mich aufs Bett. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Das Handy lag bereits auf meinem Bauch, meine Rechte darauf, überwinden konnte ich mich jedoch nicht. Lieber starrte ich hinauf an die weiße Decke und fragte mich, warum Ian erst verhindern wollte, dass das mit uns zu persönlich wurde, aber dann sauer war, weil ich mein Stew und das Guinness selbst bezahlen wollte. Was er von sich gab, hatte was von einem schlechten Witz. Er war beliebt, hatte zu seinem Geburtstag ein großes Haus voller Freunde, aber ausgerechnet bei mir machte er sich Gedanken, es könne zu persönlich werden?
„Ich hab dich eingeladen, Anna!"
Seinen vorwurfsvollen Ton hatte ich noch immer im Ohr, ebenso wie das beleidigte „Auf wiedersehen!", als er mich abgesetzt hatte.
Für meinen Geschmack hatte ich genug Vorhaltungen für einen Tag. Unweigerlich kamen gleich weitere auf mich zu. Trotzdem wählte ich die Nummer meines Stiefbruders.
„Anna, wie nett, dass du dich meldest!", säuselte er ins Telefon. „Gibt es ein Problem?"
Seine Dreistigkeit war fast nicht zu ertragen.
„Ich konnte meine Brille nicht bezahlen, Davis. Das war saupeinlich."
„Dann weißt du jetzt, wie ich mich jeden Tag gefühlt habe, wenn ich dich in die Schule mitnehmen musste." Er sagte das, als ob das auch nur annähernd meine Schuld wäre. Bei seiner Gemeinheit zuckte ich regelrecht zusammen, war völlig vor den Kopf geschlagen. Sicher war es nicht meine Idee, dass er den Inhalt meines Tagebuches vor unseren versammelten Klassenkameraden vorlas. Die Peinlichkeit, hätte ich ihm, vor allem aber mir, gerne erspart.
„Davis, ich musste mir Geld leihen um-"
„Besser du als ich, Anna. Wenn sonst nichts ist? Ich hab zu tun. Man hört sich."
Ein kurzes Knacken, dann war die Leitung still. Davis hatte mich weggedrückt! Dabei war er beim letzten Telefonat für seine Verhältnisse beinahe umgänglich. Die Wahrheit trieb mir die Tränen in die Augen. Er hatte mich nur verarscht und nie vor gehabt, mir mein Geld zu überweisen. Ihm war es egal, ob ich etwas sehen konnte oder dass ich Schulden machte.
Verzweifelt schlug ich die Hände vors Gesicht. Ich hatte noch nie Schulden. Ich wusste gar nicht, wie ich die zurückzahlen sollte. Wovon denn? Eine Träne mogelte sich zwischen meinen Fingern durch. Dann eine weitere. Obwohl ich wusste, dass Heulen mich nicht weiterbrachte flossen meine Tränen immer schneller. Wegen der Schulden bei Ian. Weil ich keine Ahnung hatte, wo ich einen Job herbekam. Weil ich Davis nach all der Zeit noch immer hilflos ausgeliefert war. Mit der Faust schlug ich immer wieder auf mein Kissen ein, stellte mir vor, es wäre Davis. Bis ich keine Kraft mehr hatte, auf den Bauch sank und mein Kissen umklammerte. Es war mein Rettungsring in einem Meer aus Tränen. Ich war so unglaublich wütend, weil ich mich nicht gegen Davis wehren konnte. Sobald er mit seinen Gemeinheiten um sich warf, erstarrte ich zu einer Eisskulptur.
Als Stella wenig später nach Hause kam, vergrub ich mein Gesicht in dem weichen Stoff meines Kissens, damit sie nicht sah, wie verheult ich war. Aber entweder hatte Stella feine Antennen für Missstimmungen oder ich verriet mich durch ein Schniefen.
„Weinst du etwa?", fragte sie und setzte sich neben mir auf die Bettkannte. „Anna? Was ist passiert?"
Die Nase noch immer im Kissen verborgen brummte ich, sie sollt mich in Ruhe lassen. Stella blieb aber stoisch sitzen, strich immer wieder über meinen Rücken, meine Haare und ich wünschte, sie würde das lassen. Schon fühlte ich die nächsten Tränen aufsteigen.
„Was ist denn los, Anna? Hat dir jemand was getan?" Schlagartig hiel sie inne. „Anna, hat Ian... irgendwas versucht bei dir?", fragte sie alarmiert.
„Als ob!", brummte ich ins Kissen, setzte mich auf und blinzelte sie an. Als wären wir bereits ein eingespieltes Ehepaar, griff sie wie automatisch nach meiner Brille und reichte sie mir.
„Nein, es hat nichts direkt mit ihm zu tun." Nur indirekt. „Er hat mich zum Optiker gefahren und anschließend haben wir Stew gegessen."
Stellas Augen weiteten sich erstaunt. „Er hat dich mit ins „Shannon" genommen?"
„Ja, wieso?"
„Das frage ich mich auch grade!"
Manchmal war Stella ein ganz schönes Schaf.
„Ich wollte wissen, was daran so ungewöhnlich ist!", erklärte ich ihr und sie klatschte sich die flache Hand vor die Stirn.
„Ach so, das meinst du. Hätte ich mir gleich denken können, oder? Natürlich hat er dir das nicht erzählt!" Sie grinste verschlagen.
„Ein Mädchen mit dorthin zu nehmen, ist, als würde er sie seiner Mum vorstellen. Ihr gehört das Shannon's Also sie ist im wörtlichen Sinne Shannon."
Das Shannon's gehörte seiner Mum. Okay. Das musste ich mal kurz verdauen. Stella ließ mir dafür etwa dreißig Sekunden.
„Aber warum hast du überhaupt geweint? Ich wäre jede Wette eingegangen, dass Ian schuld ist. Das ist er in neunundneunzig Prozent aller Fälle. Was ist denn das Problem, wenn nicht er?"
Davis. Meine Idee, er würde mich mehr mögen, wenn ich ihm aus der Scheiße helfe. Wo soll ich da anfangen, mit den Erklärungen? Oder noch weiter ausholen und...
Nein, auf keinen Fall! Das blieb zwischen Davis und mir. Niemals würde ich nur ein Wort darüber verlieren.
„Ich hab Schulden bei Ian gemacht. Und ich hab keine Ahnung, wie ich die zurückzahlen kann. Also habe ich meinen Stiefbruder angerufen, der mir noch Geld schuldet. Aber er weigert sich mir zu helfen. Ich hätte mir längst einen Job suchen müssen. Dann kam aber das Praktikum dazwischen und die Brille. Jetzt weiß ich nicht, wie ich das Geld zurückzahlen soll", dämpfte ich die Story auf das Wesentliche ein.
Stellas hübsches Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
„Schulden? Gott, Anna, mach dir keinen Stress. Ian verdient mehr Geld, als für seinen Charakter gut sein kann." Sie verdrehte die Augen.
„Aber wenn du einen Job brauchst... im Shannon's werden immer Aushilfen gesucht. Frag mal Ian. Er kann bestimmt mit seiner Mum reden. Und als waschechte Irin stellt Shannon dich bestimmt auch ein."
„Vergisst du da ein kleines Detail?" Ich tippte gegen meine Wange.
„Für eine Bedienung eher nicht optimal."
„Dann arbeite in der Küche, wenn du dich da wohler fühlst. Oder an der Bar." Stella zuckte mit den Schultern. „Rede mit Ian. Der macht das schon."
Dafür würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Aber wenn er sein Geld schnell wieder sehen wollte, hatte er zwei Möglichkeiten: er konnte es bei Davis abholen, oder mir einen Job besorgen. Aus die Maus.
Stella rieb mit der Hand über mein Knie.
„Siehst du, du musst nur mit mir reden und schon sind alle Probleme gelöst." Ihr Lächeln und ihre strahlenden blauen Augen waren unglaublich beruhigend.
„Oh und wo wir gerade dabei sind! Guck mal was ich hier habe!" Sie griff nach ihrem Rucksack, mit dem Emblem eines zusammengerollten Fuchses und zog eine Tüte daraus hervor. Dann griff sie hinein und legte Makeup in sehr hellen Tönen auf das Bett.
„Ich glaub, damit können wir die Narbe gut kaschieren."
Skeptisch sah ich mir die beiden Fläschchen an. Mal im Ernst! Ein lächerliches bisschen Farbe?
„Okay", murmelte ich. „Da bin ich gespannt."
„Ach, komm schon, sei nicht so negativ, Anna! Das wird morgen ein phantastischer Abend. Dein Finn wird bezaubert sein von Dir!"
Ihre Begeisterung entlockte mir ein Grinsen.
„Hoffentlich bin ich auch von ihm begeistert. Bis jetzt hab ich ihn noch nicht mal gesehen!"
„Wir sind alle gespannt, Anna."
Mit gerunzelter Stirn musterte ich sie. „Wie? Alle?"
„Na ich. Ian. Du. Und am meisten Finn. Was dachtest du denn?"
„Es klang nur... keine Ahnung. Komisch." Ich konnte es selber nicht in Worte fassen. Mein Argwohn war auf das „alle" in ihrem Satz sofort angesprungen. Ein gebranntes Kind und das Feuer.
Als ich ihr das erklärte, lachte sie amüsiert.
„Du siehst Gespenster!"
„Nur nachts, wenn dein Bruder plötzlich im Raum steht."
Stille bredeine sich zwischen uns aus und ein warmes Gefühl wirbelte durch meinen Bauch und meinen Brustkorb.
„Dir ist schon klar, dass er dich mag?", durchbrach Stella die Stille und ich presste die Lippen aufeinander, bis sie taub wurden.
„Quatsch", wiegelte ich ab. Obwohl ich mir wünschen würde, dass sie recht hatte. Wie auch nicht? Ian war unglaublich. Allein der Gedanke an seine Augen ließ mein Herz stolpern. Da brauchte ich noch nicht mal an sein Lächeln denken. Selbst wenn er sauer war, fand ich ihn eher anziehend als beängstigend. Nicht wie Davis, bei dem ich am liebsten unter die Couch gekrochen und nie mehr hervorgekommen wäre, wenn er wütend wurde.
„Du musst es wissen", grinste Stella und stand auf, um sich zu strecken.
„Ich glaub, wir sollten mal schlafen gehen. Du hast morgen einen langen Tag vor dir. Und eine hoffentlich verdammt lange Nacht mit einem heißen Kerl."
Sofort färbten sich meine Wangen und Stella zwinkerte mir zu. „Ach ja, Anna, ich sehe schon, du bist wirklich eine absolute Expertin, wenn es um Männer geht und darum, was sie wollen."
Stella hatte es richtig erkannt. Bis zum Expertenstatus fehlte mir noch ein gutes Stück. Vermutlich wälzte ich mich deswegen auch die halbe Nacht im Bett herum. Dachte über das nach, was Stella über Ian behauptet hatte. Machte mir Gedanken darum, was Finn für ein Typ war. Fragte mich, wie Stella meine Narbe wegschminkte. Dachte an Ian. War besorgt, weil ich Finn kaum kannte. Ärgerte mich, weil ich nicht einschlafen konnte und morgen todmüde sein würde. Überlegte, wie ich Samstag beim Projekt die Mädchen unterrichten sollte, denn die Choreo gefiel mir nicht. Ich fand sie zu anspruchslos. Dann fragte ich mich, wie ich bei Ian die Sache mit dem Job anbringen sollte.
Kurz und gut, die Nacht war höllisch. Je mehr ich mich nach Schlaf sehnte, desto weiter rückte er in die Ferne. Was Stella meinte, wenn sie sagte, Ian würde mich „mögen"? Meinte sie mögen wie man seinen Bettvorleger mochte? Also in etwa wie: er trampelte gerne auf mir rum. Oder mögen wie Schokolade? Er fand mich zum Vernaschen süß. Oder eher wie ein Taucher seine Sauerstoffflasche mag? Ich war in jedem seiner Atemzüge?
Und warum macthe ich mir Gedanken über sowas? Ich hatte morgen ein Date. Für Ian sollte in meinem Kopf kein Millimeter Platz sein! Stöhnend warf ich mich auf die andere Seite, kniff die Augen zu. Nur ein bisschen schlafen, sonst überlebte ich den Tag morgen nicht!


BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt