„Im Ernst Anna, sowas hab ich nicht mehr gesehen, seit meine Mutter ihren alten Wischmopp weggeworfen hat", lachte Stella am nächsten Morgen und zauste durch meine wirren Strähnen. Nach dem Duschen hatte ich die Haare nur kurz angeföhnt. Über Nacht hatten sie sich in ein verfilztes Vogelnest verwandelt, was ich nur halb so erheiternd fand wie Stella.
„Warte, ich helfe dir", bot Stella an, nahm mir die Bürste ab und verschwand in unserem Schrank. Mit einem Sprühfläschchen in der Hand, das sie triumphierend wie ein Zehnkämpfer die Fackel des olympischen Feuers in die Höhe reckte, tauchte sie nur Sekunden später wieder auf.
„Was ist das?"
Argwöhnisch beäugte ich den mit einer gelblichen, öligen Flüssigkeit gefüllten Flakon, auf den ein goldener Verschluss geschraubt war.
„Lass dich überraschen", zwitscherte Stella und zog mit einer übertrieben großen Bewegung des Armes theatralisch die Schutzkappe ab. Nach dem ersten Hub verbreitete sich der penetrante Duft künstlicher Vanille in unserem Raum und ich kräuselte etwas angewidert meine Nase. Stella zuckte mit den Schultern.
„Wer schön sein will, muss leiden. Sagt man so, oder?"
Zwei weitere Sprühstöße ließ ich über mich ergehen, bevor Stella ihre Wundertinktur in meine Haare massierte. Dann schnappte sie sich die Bürste und arbeitete sich strähnchenweise durch die dichte rote Wolle.
Als Stella fertig war, hatte ich keine wilde Krause mehr, sondern Locken, die sich gezähmt über meinen Rücken ergossen. Der zu Anfang beißende Geruch war verflogen. Völlig von den Socken drehte ich meinen Kopf vor dem Spiegel hin und her.
„Wo gibt es das? Das muss ich unbedingt haben!"
Stella studierte nachdenklich das Etikett.
„Hm", brummte sie. „Könnte schwierig werden. Ian hat das aus Irland mitgebracht."
Das erklärte, warum es mit meinen wirren Locken kompatibel war, zerstörte aber gleichzeitig meine große Hoffnung, Ordnung in meine Haare zu kriegen zunichte.
„Jetzt komm, sonst sind wir zu spät zur Vorlesung", mahnte Stella zur Eile.
Meinen Rucksack über der Schulter folgte ich der Blonden über das Gelände und verabschiedete mich dann auf Höhe des Glaspalastes. Dass dieser das Zentrum des Universitätsgeländes markierte, hatte ich inzwischen begriffen und von hier gelang es mir mühelos, den richtigen Fachraum zu finden. Nur die Einstellung zum Unterricht fand ich heute nicht. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab. Es war mittlerweile Donnerstag und ich hatte absolut keine Ahnung, welches soziale Projekt ich unterstützen sollte, und ich hatte noch weniger Ideen, wie ich Finn ausfindig machen, geschweige denn ihm helfen konnte.
Der Gedanke, dass ich besser mit dem Brief zur Polizei gegangen wäre, beschlich mich. Was, wenn ich zu spät herausfand, wer er war und seinen Freitod verantwortete? Damit wollte ich mein Gewissen nicht belasten. Andererseits führte ich nicht das Messer und wir lebten in einem Land, in dem jeder, zumindest in Grenzen, das Recht auf Selbstbestimmung hatte.
Gut möglich, dass Finn mit Medikamenten und einer adäquaten Therapie geholfen war, und ich verschwendete wertvolle Zeit. Das war unverantwortlich!
Mein Entschluss geriet ins Wanken, als ich einen Brief im Postfach fand.
„Anna" stand in sauberer Handschrift auf dem Umschlag und schlagartig legte mein Herz einen Zahn zu. Ich ließ den Rucksack zu Boden gleiten.
„Mach, dass es ihm gut geht!", flüsterte ich und riss an Ort und Stelle den Umschlag auf.
Angespannt faltete ich das Papier auseinander und ein weiterer Bogen trudelte wie ein Herbstblatt zu Boden.
Sofort war mir klar, worum es sich handelte. Mein Lageplan! Mit dem Brief auf der Rückseite. Die Augenbrauen zusammengezogen betrachtete ich den Plan. Finn hatte ihn mir offenbar nicht nur zurückgeschickt, sondern zusätzlich Zahl in der unteren rechten Ecke mit einem Leuchtmarker umkreist.Liebe Anna,
erstmal schicke ich heute Deinen Lageplan zurück. Wenn Du Dir die Zeit nimmst, ihn genau anzusehen, entdeckst Du in der unteren rechten Ecke eine achtstellige Zahl. Die gleiche Zahl steht auf Deiner Stundentafel, auf Deinem Prüfungsverzeichnis und in deinem Studentenausweis. Herauszufinden, wer Du bist, war also kein Hexenwerk. Man muss nur die richtigen Leute fragen und wie Du weißt, kenne ich eine Menge Leute, liebe Anna.
Wenn ich ehrlich bin, kenne ich außer Dir niemanden, der in einem Trailerpark aufgewachsen ist. Ich kann mir kaum vorstellen, wie man auf so wenig Raum das Leben mehrerer Personen unterbringt. Wie es ist, wenn man nicht von einem festen Dach vor Regen und soliden Mauern vor Stürmen geschützt ist.
Was ich aber trotzdem gut verstehe, ist die Angst, zurückzukehren und nichts mehr so vorzufinden, wie es früher einmal war. Die wahren Stürme, toben oft genug innerhalb der eigenen vier Wände und wirbeln alles durcheinander bis tief in unsere Seele. Man verlässt morgens sein Haus ohne zu ahnen, dass man es nicht mehr erkennt, wenn man zurückkehrt. Nicht, weil das eigene Heim sich innerhalb eines Wimpernschlages verändert hat, sondern man schlicht selbst nicht mehr derselbe ist, der am Morgen aufgestanden ist und alles für selbstverständlich genommen hat, was das Leben bereithielt. Man ahnt nicht, dass ein Atemzug oder ein Wimpernschlag ein geordnetes Leben mit der Kraft eines Tornados in seine Bestandteile zerlegen kann. Ein Gedanke, ein Wort, eine Entscheidung und alles fliegt einem in einem Blitzgewitter um die Ohren und spuckt einen zerbrochen in ein zerstörtes Leben zurück.
Ich bin froh, Anna, dass Du bei Deinem Unwetter nur Dein zu Hause verloren hättest, die Menschen, die Du liebst aber jederzeit bei Dir und in Sicherheit waren. Dieses Glück war mir nicht gegeben. Im Gegenteil. Ich habe einen ganzen Tornado entfesselt, ohne die zerstörerische Kraft zu kennen. Und als ich am Abend nach Hause zurückkehren konnte, war alles zerstört, was ich bisher kannte und nichts und niemand kann das, was geschehen ist, rückgängig machen.
Oh Finn!
An dieser Stelle musste ich tatsächlich erstmal blinzeln. Finn hatte Schreckliches ertragen müssen, dessen war ich mir sicher. Was auch immer in seiner Vergangenheit passiert war, er suchte die Schuld bei sich. Sie nagte an ihm wie die Larven eines Borkenkäfers, grub ihm langsam den Saft ab und er hatte bereits begonnen, innerlich zu welken und zu sterben. Wie tragisch, wenn das Schicksal einem erst ein Bein stellte und man dann von der Schuld immer wieder in den Dreck gedrückt wurde!Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Du Dein Versprechen zu tanzen, so ernst nehmen würdest. Und ich habe nicht damit gerechnet, welche Wirkung es auf mich haben würde. Es war wirklich unglaublich, Dir dabei zuzusehen. Die Hoffnung und die Zuversicht zu fühlen, die du versprühst wie eine Wunderkerze.
Deine Haare sind wie flüssiger Bernstein, in dem sich die Sonne fängt und Deine Haut hat im Scheinwerferlicht geleuchtet wie Mondschein. Du bist Licht, Anna. Musik ist dein Herzschlag. Teile diese Flamme wie das olympische Feuer. Trag es hinaus in die Welt und lass dich von niemandem dimmen, schon gar nicht von diesem Wichtigtuer Grayson.
Tanz und leuchte für mich, Anna, damit es nicht mehr so finster ist in meinem Herzen. Und vielleicht kannst Du die Tage noch für ein paar andere erhellen, die, im Dunkeln leben müssen. Google mal „FSDP". Vielleicht ist das was für Dich?
Finn.
Meine Haut wie Mondlicht? Meine Haare waren wie Bernstein? Bisher hatte mir noch niemand Komplimente wegen meiner Haare gemacht. Trotz der netten Worte bekam ich Gänsehaut, weil Finn mich beobachtet hatte, ohne dass ich das Geringste bemerkte.
Nicht die Art Gänsehaut, die man bei einem Liebesfilm bekam, wenn sich das Paar endlich küsste. Es war eher dieses ungute Kribbeln, wenn der Mörder in aller Ruhe einen fremden Eisschrank öffnete, sich ein Bier nahm und damit gemütlich in den ersten Stock schlenderte, wo er sein Opfer beim Duschen beobachtete, bevor er es killte. Es war die Art Gänsehaut, die sich auf der Magenschleimhaut fortsetzte und leichte Übelkeit verursachte. Ohne Brille war ich blind für die Umgebung um mich herum und jedem und allem hilflos ausgeliefert.
Gedankenverloren platzierte ich den Brief auf meiner Schreibtischunterlage. Google mal FSDP.
Was für andere unkompliziert über das Handy funktionierte, bedeutet für mich einen Ausflug in die Bibliothek.
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BLINDFOLDED - Blindes Vertrauen
RomanceManchmal muss man blind vertrauen: Anna findet Ian unerträglich. Selbstverliebter Mädchenschwarm. Der Mittelpunkt seines Universums. Rauchender Partygänger, der Gott und die Welt kennt. Genau der Typ, den Anna meidet wie der Veganer das Fleisch. Doc...