In der Zeit, die Nate, Felicity und Nora benötigten, bis sie um die nächste Ecke bogen, schien die Welt stillzustehen. Alle Geräusche traten in den Hintergrund. Mein Fokus lag einzig auf Nates breitem Rücken, Felicitys selbstbewusst gehobenen Kopf und Noras Hüftschwung. Bis vor drei Sekunden war mir nicht mal klar, dass Hüften „Leck mich am Arsch" sagen konnten. Aber Noras Hüften sprachen ohne jeden Zweifel. Ob sie gerade eher mit Ian oder mit mir kommunizierten, war ich mir unsicher. Gut möglich, dass es uns beiden galt. Kopfschüttelnd wendete ich mich von der Wand ab, hinter der das Trio verschwunden war.
Was für eine unerfreuliche Szene und was für eine hinterhältige Art, Ian bei mir schlecht zu machen. Bisher hatte ich Felicity für die Nettere der beiden Mädchen gehalten, die um Ian herumscharwenzelten, ab sofort würde ich sie bestenfalls als durchtrieben bezeichnen und das war die charmanteste Umschreibung, die mir gerade in den Sinn kam. Auf subtile Art hatte dieses freundlich und ausgeglichen wirkende Miststück mit Hilfe eines Vorschlaghammers versucht einen dicken Keil zwischen mich und Ian zu treiben. Damit waren ihre Sympathiepunkte bei mir förmlich in den Keller gerasselt.
Erst als die drei außer Sichtweite waren, atmete ich auf.
„Anna, du denkst hoffentlich nicht wirklich, ich hätte... irgendwelche Hintergedanken gehabt."
Darüber, was ich glaubte, hatte ich bis jetzt noch keine Zeit nachzudenken. Ich war in erster Linie erleichtert, dass die drei von der Bildfläche verschwunden waren. Trotzdem musste ich mich der Frage stellen: hatte er oder hatte er keine Hintergedanken gehabt?
Die Antwort war mehr als simpel.
„Wäre ein ziemlicher Aufwand gewesen, wenn es nur um den Workshop ging. Das hättest du viel einfacher haben können."
„Dann bekomme ich also einen Vertrauensvorschuss von dir?" Bittend sah er mich an. Ich dachte bisher, für einen Hundeblick bräuchte es dunkle Augen. Mit grauen funktionierte es aber auch. Wenigstens bei mir.
Ich hob Daumen und Zeigefinger und ließ zwischen den beiden Finger einen kleinen Spalt.
„Ja, so einen winzigen Vorschuss bekommst du. Mehr ist nach der Sache mit dem Nutella für dich aber leider nicht mehr drin, fürchte ich."
Erst sah mich Ian etwas komisch an, dann lupfte er seinen rechten Mundwinkel ein gutes Stück. Mann, sah das süß aus. Jedes Mal, wenn er das tat, schmolz mein Herz zu einer Pfütze. Dann erstarrte ich. Nahm er mich gerade mitten auf dem Gang in den Arm?
Oh.
Und waren das etwa seine Lippen an meinem Hals? In aller Öffentlichkeit.
„Danke", murmelte er leise, ehe er mich wieder losließ. „Du ahnst nicht, wie viel mir das bedeutet."
Etwas überfordert von Ians gefühlsduseligem Verhalten umarmte ich ihn ebenfalls, rieb kurz über seinen Rücken und wisperte einen schnellen Abschied. Was ich veranstaltete, konnte man im Nachhinein nur als ungeordneten Rückzug bezeichnen. Die komplette folgende Vorlesung hätte ich mich dafür ohrfeigen können. Ich war sowas von sozialbehindert und benahm mich dermaßen dämlich, dass ich Davis für seine Aussage, er hätte sich laufend für mich geschämt, beinahe eine Absolution erteile. Ian stehen zu lassen, war bestimmt nicht normal. Nichts an mir ist normal. Eigentlich konnte ich nicht begreifen, was Ian an mir fand. Wie konnte er sich überhaupt in mich verlieben?
Gedankenverloren fuhr ich mit dem Daumennagel die Linien auf meinem College-Block nach. Und plötzlich waren sie da. Treffen mich wie eine Schockwelle. All die Zweifel. All die Unzulänglichkeiten. All meine Fehler. Neben einer strahlenden Persönlichkeit am Studentenhimmel wie Ian eine war, schnitt ich noch viel schlechter ab als ohnehin schon.
Nicht unwahrscheinlich, dass Felicity den richtigen Riecher hatte und Ian Hintergedanken hatte, die er verbargt. Aber würde er mich dann nicht eher im Verborgenen treffen? Und wie passte das zu dem Umstand, dass wir uns völlig zufällig auf einem Straßenfest getroffen hatten?
Ach komm, Anna! Hör schon auf!
Mit Gewalt zwange ich meine Augen in Richtung des Whiteboards und versuchte zumindest dem Rest der Ausführungen zu folgen. Das war aber leichter gesagt, als getan. Meine Gedanken wanderten immer wieder zurück zur vergangenen Nacht und zu dem kleinen Haus am Meer.
Nach unserer Tasse Tee hatte Ian mir vorgeschlagen, wir könnten Brettspiele spielen. Erst dachte ich, er veräppelte mich. Sowas machte kein Mensch mehr, wo jeder Smartphones und Apps hatte. Außer meinen Großeltern spielte niemand, den ich kannte, „Mensch-ärgere-dich-nicht" oder „Malefiz". Oder Dame und Mühle. Schön war es, dort oben vor dem Bett auf der Empore zu sitzen und zu spielen, bis die Dämmerung einsetzte. Glutrot versank die Sonne im Meer und färbte die Wolken und das Wasser in verschwenderischen Rot- und Orangetönen.
„Atemberaubend", hatte Ian neben mir gehaucht und eine Strähne meiner Haare langsam um seinen Finger gewickelt. „Es gibt keinen Sonnenuntergang mehr bei dem ich nicht an dich denke. Du bist meine Sonne."
Gestern hatte ich nur verlegen gelacht über das Kompliment. Und heute? In diesem Moment? Wollte ich mich nur wieder an Ians Schulter kuscheln, seine Nettigkeiten aufsaugen wie ein Schwamm und damit die Verletzungen und boshaften Lästereien aus der Vergangenheit wegwischen.
Am Schluss der Stunde hatte ich keine Ahnung, worum es ging, war aber eine der ersten, die ihr Zeug in die Tasche geworfen hatte und zur Tür hinausgewischte. Im Strom der Kommilitonen, die aus ihren Unterrichtsräumen quollen, paddelte ich über die Gänge bis zur Mensa und schwappte mit einer großen Gruppe von Studenten in die nächste Vorlesung. Physisch nahm ich an dieser auch Teil. Mein Kopf blieb aber in Gedanken in dem kleinen Haus am Meer und der Nacht, die Ian und ich dort verbracht hatten. Erschreckenderweise hielt sich mein schlechtes Gewissen, wegen der Auszeit, die wir genommen hatten in überschaubaren Grenzen. Jederzeit wieder hätte ich mich mit Ian in das kleine Bett gequetscht, seinen Atemzügen im Halbdunkel einer Stehlampe gelauscht und wäre eingelullt vom Meeresrauschen eingeschlafen.
Die Stichworte „klausurrelevant" und „Hausarbeit" rissen mich schließlich unsanft aus meiner Träumerei. Wirklich schaffte ich es mit dem Damoklesschwert einer Prüfung über mir, mich endlich zu konzentrieren. Wenigstens solange, bis mein Handy brummte.
Ian: Nate, Nora, Feli und ich gehen später die Choreo durch. Lust zuzuschauen?
Ich: Sorry. Hab leider ein Vorstellungsgespräch in der Stadtteilbibliothek.
Leider.
Nur zu gerne hätte ich Macarena getanzt, weil ich eine super Ausrede fand, den drei Nervensägen aus dem Weg zu gehen.
Ian: Das wird ein langer einsamer Abend ohne Dich. Sehen wir uns morgen?
Ich: Gerne.
Oh Gott. Die Antwort war zu kurz, oder?
Ich: Freu mich schon.
Ja. Besser.
Ian: Werde dich vermissen. XD
Oh.
Schmetterlinge explodierten in meinem Bauch. Und schon vergeudete ich die nächste Vorlesung mit Träumereien.
In aller Eile überquerte ich nach meiner letzten Stunde den Campus, kehrte auf die Schnelle in der Mensa ein, um hastig ein Sandwich zu verschlingen und zog mich dann um.
Saubere Jeans, eine konservative weiße Bluse und ein hoher Dutt rundeten zusammen mit meiner Brille das professionelle Outfit der zukünftigen Bibliothekarin Anna Sullivan ab. Zufrieden blickte ich in den Spiegel. Moment mal.
Zufriedenheit? Die hatte ich schon lange nicht mehr gespürt.
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BLINDFOLDED - Blindes Vertrauen
RomanceManchmal muss man blind vertrauen: Anna findet Ian unerträglich. Selbstverliebter Mädchenschwarm. Der Mittelpunkt seines Universums. Rauchender Partygänger, der Gott und die Welt kennt. Genau der Typ, den Anna meidet wie der Veganer das Fleisch. Doc...