ACHTUNDDREISSIG

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Ein klein wenig enttäuscht stellte ich fest, dass Ian mich in der Menge nicht erkannt hatte, denn ohne innezuhalten, wanderte sein Blick über die sehr überschaubare Menge der Zuschauer an mir vorbei. Sein Blick zuckte zurück in meine Richtung, irrte suchend umher und als seine Augen meinen begegneten, zupfte ein Lächeln an seinen Mundwinkeln. Ein Lächeln, das mich verwirrte, weil es aussah, als würde er sich ehrlich freuen, mich dort zu sehen. Ein Lächeln, das seine Augen strahlen und mich verwirrt schlucken ließ, in der Hoffnung, dass mein Herz, das vor Aufregung bis in meinen Hals hüpfte, seinen Platz hinter dem Brustbein wiederfand.

Aufregung packte mich, als die ersten Töne der Musikanten erklangen. Noch nie hatte ich Ian tanzen sehen. Also von unserem Walzer zu seinem Geburtstag mal abgesehen und noch weniger hatte ich eine Ahnung, dass er sich für Volkstanz interessierte, geschweige denn, dass er in einer Volkstanzgruppe mitmachte.

Die Klänge versetzen mich wieder zurück in eine Zeit, die längst vergangen und doch greifbar war. Am liebsten wäre ich auf die Bühne gestürmt und hätte mitgetanzt. Wie früher, wenn Grandpa und Onkel Gilbert für ihre Freunde aufspielten und Grandma gesungen hatte. Heute stand ich wie ausgemustert am Rand. Unbeteiligt wie die Zuschauer im Trailerpark, die uns umrundeten, wenn wir auf dem Outdoor-Schachfeld den Zauber keltischer Vorfahren zum Leben erweckten. Auch damals klatschten die Umstehenden wie jetzt im Takt und Paare wirbelten wie Schneeflocken im Sturm dazu umher.

Im Augenblick hatte ich nur noch Augen für eines der Paare und dafür, wie Ian beim Tanzen seine Partnerin anstrahlte. Er schien richtig aufzuleben. Seine Wangen röteten sich und seine Augen blitzten, wann immer unsere Blicke sich kurz kreuzten. Dass Ian gut aussah, daran würde niemand zweifeln, der ihm begegnete. In diesem Moment sah er nicht gut, sondern vor allem glücklich und unbeschwert aus. Das machte ihn geradezu atemberaubend.

Als die erste Melodie endete, hatte ich Tränen in den Augen. Nicht wegen Ian und des Mädchens im grünen Kleid, sondern weil die Erinnerung an die Zeiten wehtat, in denen ich ebenso unbeschwert war wie die beiden in diesem Augenblick. Obwohl die Erinnerung in meinen Eingeweiden stach und bohrte, ließ ich zu, dass sie mich fortspülte an Küsten, die mein Grandpa und ich abgelaufen waren, während er von seiner wilden irischen Heimat erzählte und hundert Male zu Granny sagte:

„Und weißt du noch damals..."

Meine Großmutter hatte genickt, wenn er erzählte, so manches Mal Details ergänzt oder ihm Namen souffliert, wenn ihn die Erinnerung im Stich ließ.

Gerne hätte ich jetzt auch jemanden wie Grandpa an meiner Seite, zu dem ich sagen könnte:

„Weißt du noch damals, als ich mit Grannys Rock tanzen wollte und in den Saum gestiegen bin?"

Oder: „Weißt du noch damals, als ich versucht habe meine Locken zu zähmen, in dem ich sie mit Leim festgeklebt habe?"

Oder :„Weißt du noch, wie aufgeregt ich war, als Mum ankündigte ihr neuer Kollege würde mit seinem Sohn zum St.-Patricks-Day kommen?"

Stattdessen stand ich hier, viele hundert Kilometer getrennt von den Menschen und Orten, die ich liebte und in deren Schutz ich aufgewachsen war. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich, wenn auch nur im Ansatz, wie es für meine Großeltern gewesen sein musste, ihre Heimat für immer zu verlassen und welch großes Glück sie hatten, sich in dem riesigen Land, das ihre neue Heimat war, nicht aus den Augen zu verlieren.

Als die letzten Klänge über die Wiese wehten, getragen von kräftig auffrischendem Wind, brandete Applaus auf und die Tänzer verbeugten sich atemlos, mit roten Wangen und zerzaustem Haar. Den Moment nutzte ich, um mich aus dem Staub zu machen. Auf keinen Fall wollte ich von Finn heute in Ians Nähe gesehen werden, bevor ich ihm erklärt hatte, dass ich mir von niemandem mehr reinreden ließ, was meinen Umgang betraf.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt