Wenn zwei sich streiten...

956 88 26
                                    

Ein lauter Knall weckte mich. Müde fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht. Was war passiert? Mein schmerzender Rücken erinnerte mich schließlich an die Geschehnisse dieser Nacht. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, dass es noch immer dunkel war. Ich streckte mich und versuchte meine Haare irgendwie zu richten. Offenbar war ich mit dem Rücken zur Tür sitzend eingeschlafen. Meine Wirbelsäule beklagte sich bereits und knackte als ich aufstand. Als ich probierte die Zimmertüre zu öffnen, hörte ich Schritte ihm Flur.
Sofort war ich hellwach.
Leise legte ich die flachen Hände gegen die Tür und horchte.
„Julien?", fragte ich leise. Meine Augen brannten und waren mit Sicherheit knallrot unterlaufen. In der Wohnung blieb es still und ich hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, dass er wieder zurück war, als der Schlüssel ins Schloss gesteckt und herumgedreht wurde.
Schnell wischte ich mir über die Augen.
Als sich die Tür endlich öffnete und Julien dahinter stand, fiel mir ein Stein vom Herzen. Er konnte mich nicht ansehen. Unwillkürlich musste ich mich fragen, ob er es getan hatte. Schuldbewusst sah er mich an. Ich hielt mir mit der Hand den Mund zu um nicht laut auf zu schreien. Ich wusste nicht wie lange wir so da verharrten und versuchten die Situation zu realisieren. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Weinen, weil Chris tot war oder Lachen weil Julien heil wieder bei mir war.
„Ist... Hast du... Chris?", brachte ich dann mit dünner Stimme hervor und suchte mit müden Augen in den seinen nach der Wahrheit.
Zwei, drei Minuten sah er mich nur an. Dann schüttelte er schließlich den Kopf. „Nein. Als ich ankam war er schon fort. Er wusste, dass es so kommen würde und steckt da tiefer mit drinnen, als ich geahnt hab."
Nachdem seine Worte in meinen Verstand vorgedrungen waren, blinzelte ich einmal und spürte wie Tränen der Erleichterung sich aus meinen Augen lösten.
Laut entwich die Luft meinen Lungen und ich sank in die Knie. Julien war da und fing mich auf. Lautlos weinte ich an seiner Brust und war einfach nur dankbar, dass er es nicht getan hatte. Das Chris weg war und egal wo er war, dass er da blieb.
„Ich hatte solche Angst.", flüsterte ich und fuhr mir durch die Haare. Wir saßen nebeneinander an die Matratze gelehnt und starrten in das dunkle Zimmer.
„Ich auch.", gestand er leise und nahm meine Hand.
„Wovor?", erwiderte ich genauso stimmlos und blickte erst auf unsere verschränkten Finger, dann in seine Augen. Sie waren von ungewohnter Trauer getrübt.
„Dass du mich hassen würdest, wenn ich es täte."
Ich lächelte matt, als Julien mir sanft eine Träne von der Wange strich.
„Selbst wenn ich es wollte, könnte ich dich nicht hassen. Ich liebe diesen Mann der hier neben mir sitzt. Er ist nicht perfekt, hat seine Macken und eine Seite die mir verdammte Angst einjagt. Aber er ist der Mann in den ich mich vom ersten Augenblick verliebt hatte und ich will nie wieder einen anderen lieben."
„Ein einfaches ‚Ich liebe dich' hätte es auch getan, Minette.", lachte Julien und küsste mich auf die Nasenspitze.
Ich lachte ebenfalls. Auch wenn es sich anhörte als würde ich wieder in Tränen ausbrechen. Was irgendwie gar nicht so weit auseinander lag. Er legte seinen Arm um mich und zog mich näher an seine Brust. Seufzend bettete ich meinen Kopf auf seinen Schoß und blickte nach oben in seine beiden wunderschönen Ozeane.
„Und was machst du jetzt?", fragte ich irgendwann. An diesen Augen würde ich mich wohl nie sattsehen können. Dafür waren sie einfach viel zu einzigartig.
„Nichts. Ich werde mit dem Rat telefonieren und ihnen sagen, dass Chris auf der Flucht ist und ich hier nicht wegkann, da ich sonst dein Vertrauen verlieren würde.", entschied er mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Klingt nach einem vernünftigen Plan.", stimmte ich zu und suchte in seinem Gesicht nach einem Fehler. Allerdings gab es augenscheinlich nichts Falsches an ihm. Nicht den kleinsten Makel. Er war perfekt. Ganz im Gegenteil zu mir. Ich war chaotisch und machte eigentlich nur Fehler.
Er bemerkte meinen nachdenklichen Ausdruck und fuhr mir mit dem Finger über die Stirn.
„An was denkst du gerade?"
„Ich frage mich warum das Schicksal gerade uns zusammengeführt hat." Meine Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln. Auf meinen Wagen konnte ich spüren wie die letzten Tränen trockneten.
„Egal was es für Gründe gab, ich bin froh, dass es passiert ist. Ein Leben ohne meine kleine chaotische Charly wäre unvorstellbar.", erklärte er und küsste mich.
„HA HA!", machte ich nur und stand auf. Draußen kündigte sich bereits der Morgen an.
„Ich geh mich duschen.", informierte ich ihn und deutete an mir hinunter. Eine heiße Dusche würde die Schatten der letzten Nacht vertreiben und mich wieder aussehen lassen wie ein Mensch. Mit einem Blick auf Julien verließ ich kopfschüttelnd den Raum und ging in das große Wohn- Esszimmer. Die aufgehende Sonne schien durch die große Fensterfront und man konnte praktisch zusehen wie meine Stadt aufwachte. Das Duschen konnte auch noch zwei Minuten warten. Mit nackten Füßen tapste ich zum Balkon und trat hinaus.
Die Sonnenstrahlen begrüßten mich warm und hell. Lächelnd lehnte ich mich ans Gelände und beobachtete wie München langsam in diesen neuen Montag startete. Kam es mir nur so vor, oder war die Sonne heller als sonst? Als eine leichte Brise vorbeiwehte hielt ich meine Nase hinein und genoss den Geruch nach Frühling. Plötzlich legten sich zwei starke Arme von hinten um mich und Julien schmiegte sich an mich. Ich drehte meinen Kopf ein kleines Stück nach hinten, so dass ich ihm in die Augen sehen konnte. Dann lächelte ich und blickte wieder nach vorne. Julien legte sein Gesicht an meine Wange. Wortlos standen wir eng umschlungen hier auf seinem Balkon und sahen in die Ferne. Ein roter Ball tauchte am Horizont auf und stieg mit jeder Minute höher. Der Himmel leuchtete in allen Farben. Es sah aus als brannte er. Atemberaubend, traf es nicht einmal annähernd. Wir brauchten keine Worte um den Moment festzuhalten. Sie hätten es nur zerstört. Der Augenblick war so spontan und genau das machte ihn so perfekt.
Auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber, öffnete ein kleines französisches Kaffee seine Türen und stellte Tisch und Stühle auf den Gehweg.
Als der Verkehr unten langsam anschwoll drehte ich mich in Juliens Umarmung, küsste ihn sanft auf die Lippen und ging dann ins Badezimmer. Abschließen musste ich nicht mehr. An mir gab es nichts, was er nicht schon kannte.
Das Wasser lief heiß über meine Haut und vertrieb die Schatten letzter Nacht. Nachdem ich mich angetrocknet und mir Kleidung aus dem Schlafzimmer geholt hatte, stand ich nun wieder im Bad vor dem großen Spiegel nur in Jeans und BH. Seufzend warf ich einen kritischen Blick auf das Medaillon um meinen Hals. Warum musste das auch so eine auffällige Kette sein? Hätte nicht irgendein kleiner Anhänger gereicht, der vielleicht nicht ganz so extrem auffiel? Aber so konnte ich nicht einmal meine Lieblingskette darüber tragen. Und um ehrlich zu sein ärgerte mich das fast am meisten.
Julien stellte sich ebenfalls nur mit einer Hose bekleidet hinter mich und küsste sanft meine Schulter. Wieder mal kam ich nicht herum seinen wunderschönen Oberkörper zu bestaunen. Das war also das Ergebnis jahrelangen harten Trainings.
„Was ist los, Minette?", fragte er leise und seine raue Stimme jagte mir wohlige Schauer den nackten Rücken entlang.
„Ich hab eine Schmuckkrise.", seufzte ich und beobachtete uns beide im Spiegel. Wir waren wirklich grundverschieden.
Er lachte dunkel. „Jetzt schon? Gewöhn dich lieber mal an das Teil. Das wirst du nämlich nicht mehr so schnell los."
„Ich befürchte es!" Ich schloss genervt die Augen und öffnete sie erst wieder als Julien sanfte Küsse auf meinem Hals verteilte. Leise kicherte ich und drückte ihn weg. Aber er dachte gar nicht daran. Stattdessen schnappte er sich meine Handgelenke und zog mich zu sich.
Ich lächelte als er mich küsste und dachte, dass ich mich in meinem ganzen Leben wohl noch nie so aufgehoben und angekommen gefühlt wie jetzt gerade.
Bevor wir das hier vertiefen konnten, flüchtete ich vor ihm ins Schlafzimmer und zog mir ein T-Shirt über. Er rief empört meinen Namen und zog einen Schmollmond.
Er verdrehte die Augen und zog sich ebenfalls etwas über. Einen schwarzen Hoodie, um genau zu sein. Verdammt warum musste schwarz an ihm auch so gut aussehen? Es brachte seine Augen unheimlich gut zur Geltung.
„Aber du hast ja Recht. Wenn wir es noch pünktlich schaffen wollen, müssen wir jetzt los.", stellte er mit einem Blick auf seine schwarze Armbanduhr fest und schlüpfte in seine dunklen halbhohen Stiefel.
„Wo willst du denn hin?" Verwirrt zog ich eine Augenbraue in die Höhe.
Doch er verließ nur schnell den Raum und schnappte sich seinen Autoschlüssel. Das heißt er wollte es. Bis jetzt hatte er nur die Schublade geöffnet und fuhr unentschlossen mit seiner Hand durch die Luft.
„Du hast genug coole Autos. Mach die Augen zu und zieh einfach einen.", schlug ich vor und konnte nicht glauben, dass er sich bei sieben - sieben - solcher Autos nicht entscheiden konnte mit welchem er fahren sollte.
„Du hast Recht.", stimmte er mir zu, schloss die Augen und griff einfach in die Schublade. Ein Dodge Schlüssel baumelte an seinem Finger und er lächelte heiß. „Dann fahren wir heute also Dodge Challenger SRT.",
„Klingt gut.", lachte ich und ging vor ihm aus der geöffneten Wohnungstür und stellte mich in den Aufzug.
„Auf zur Schule.", sagte ich genervt und ließ mich in der Tiefgarage auf den Beifahrersitz des Dodge fallen. Neben mir schloss Julien gerade seine Tür und machte es sich auf seinem eigenen Sitz bequem. Dann drehte er den Zündschlüssel herum und fuhr aus der Garage an die Oberfläche. Die Sonne schien uns grell entgegen und ich verzog das Gesicht. Hatte ich doch allen Ernstes meine Sonnenbrille vergessen. Als Julien meine Grimasse sah, lachte er nur und schob sich seine eigene auf die Nase. Die Gläser waren natürlich verspiegelt und ich musste mir eingestehen, dass er selbst so heiß aussah.
Als er auf die Autobahn abbog, vibrierte mein Handy. Julien schmunzelte als ich auf einem ziemlichen umständlichen Weg versuchte, es aus meiner Gesäßtasche hervorzukramen.

Schattenkette (PAUSIERT!)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt