Unangekündigter Besuch

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„Es sind, wie gesagt, nur ein paar blaue Flecken.", wiederholte ich und versuchte ihn unauffällig aus dem Bad zu schieben. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sage dann:
„Okay, zieh dir erst mal etwas über und dann komm raus. Ich hab eine gute Creme für so etwas, mit der ich dir dann deine Flecken ein bisschen einmassieren kann." Julien meinte das ganz ohne eine zweite Bedeutung oder komische Anmache. Was irgendwie untypisch für ihn war. Aber es brachte eine andere Seite an ihm zum Vorschein. Eine besorgte. Um mich besorgte.
Ich war so überwältigt von seiner Reaktion, dass ich nur sprachlos nicken konnte.
„Gut. Die Sachen sind dir wahrscheinlich ein, zwei Nummern zu groß, aber es sind die kleinsten die ich gerade da habe. Probier es einfach." Nach diesen Worten verschwand er und ließ mich wieder allein. Dieses Mal sperrte ich vorsichtshalber doch ganz kurz ab, damit ich mich einfach beruhigter umziehen konnte. Allerdings hatte er mit der Aussage „ein, zwei Nummern zu groß" total untertrieben. Die schwarze Jogginghose war am Bund viel zu weit und an den Beinen viel zu lang. Der dunkelblaue Hoodie reichte mir gefühlt bis in die Kniekehlen und ich musste die Ärmel mindestens fünf Mal umkrempeln, damit ich zumindest meine Fingerspitzen sehen konnte. Danach fuhr ich mir mit den Händen grob durch die Haare, aber auch das brachte nicht viel. Verunsichert schlurfte ich auf nackten Füßen aus dem Bad. Als ich wieder in die Küche kam, blickte Julien auf und ließ seinen Blick über meinen Aufzug wandern. Dann konzentrierte er sich kopfschüttelnd wieder auf das Rührei in der Pfanne vor sich.
„Ich weiß, sag nichts! Ich seh aus wie der größte Idiot.", meinte ich und blickte an mir hinab. Ich sah aus... Oh mein Gott.
„Du bist wunderschön.", flüsterte er und blickte mich aus gesenkten Augenliedern an.
Mir stockte der Atem. Das hatte er nicht gesagt! Oder doch? Ich musste mich verhört haben. Julien DuCraine hatte mich eben wunderschön genannt. Mich! Den Freak der Schule. Den wohl unauffälligsten Mensch der Welt.
Ich starrte ihn an. Er mich. Und da war es wieder. Dieses Band das uns zu einander zog. Wir wussten, was der andere in etwa dachte. Wie er sich fühlte. Es war beängstigend. In meinem ganzen Leben, hatte ich noch nie etwas so gewaltiges gefühlt.
Er lächelte mich an und die Luft um uns herum knisterte gefährlich. Die Spannung war zum Greifen nah. Seine Augen starrten mich unverwandt an.
Eine graue Wolke und ein beißender Geruch rissen uns aus unseren Positionen. Julien fluchte laut und ich setzte mich lächelnd auf einen der hohen Barhocker vor der Kochinsel.
Mit Worten, die ich hier nicht schreiben möchte, schmiss er die Pfanne ins Waschbecken und wollte Wasser drauflaufen lassen. Als ich jedoch sah, was er vorhatte, sprang ich auf und schubste ihn zur Seite.
„Willst du uns umbringen?", fragte ich lachend, nahm ihm die rauchende Pfanne aus der Hand und stellte sie auf den Balkon. Dann erstickte ich die Flamme, die sich darauf gebildet hatte, mit meinem nassen Handtuch.
„Danke. Ich glaube du hast gerade verhindert, dass meine Wohnung abfackelt.", stellte er fest und lehnte sich auf die Kochinsel. „Allerdings kann ich dir jetzt kein Rührei anbieten."
Ich lachte. Er war so drollig.
„Das Rührei ist gerade mein kleinstes Problem.", gestand ich und fuhr mir durch die klammen Haare. Auf seinen fragenden Blick hin fügte ich noch hinzu:
„Ich ersetzte dir natürlich das Handtuch und bringe dir die Kleidung gewaschen zurück."
Dieses Mal lachte er.
„Das ist nicht dein Ernst, oder? Du rettest meine Wohnung und willst mir ein langweiliges Handtuch ersetzten?", fragte er grinsend.
„Sieh so aus.", antwortete ich verlegen.
Er kicherte und barg das Gesicht in den Händen. „Ach Minette, du bist so süß."
Langsam kam er um den Tisch herum auf mich zu, nahm meine Hand und zog mich zu sich auf die Couch. Seine Haut war warm und weich. Meine Knie verwandelten sich auf dem kurzen Weg zum Sofa in Wackelpudding.
„Jetzt kann ich dir nur noch Kaffee und trockenes Müsli anbieten.", lächelte er und vergrub die Nase in meinen Haaren. Es war eine unheimlich vertraute Geste, obwohl wir uns eigentlich gar nicht kannten. Aber es war schön... Ich grinste glücklich und wünschte mir den Moment für immer anhalten zu können. Seine Lippen strichen über meine Stirn und ein warmer Schauer jagte über meinen Rücken. Mann, ich hätte für immer so verweilen können.
Ich lag mit dem Rücken an seiner Brust und konnte seinen Herzschlag spüren. Langsam schloss ich meine Augen und ließ mich fallen. Dieses eine Mal wollte ich all meine Probleme vergessen. Nur ihn spüren. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Konturen meines Gesichts nach. In mir bewegte sich etwas. Er berührte meine Seele und rief Emotionen in mir wach, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass ich sie hatte. Aber es waren wunderschöne. An die ich mich gewöhnen könnte. In den ich mich verlieren könnte.
Sanft legte ich meinen Kopf auf seine Schulter und blickte ihn an. Er lächelte warm. Zum zweiten Mal an diesem Morgen beugte er sich vor und ich konnte schon fast seine Lippen auf meinen spüren.
Doch bevor wir beide die rettende Erlösung in diesem einen Kuss finden konnten, jagte die Türklingel uns auseinander. Verlegen löste ich mich von ihm, stand auf, strich mir die Haare hinter die Ohren und kühlte meine roten Wangen mit den Handrücken.
„Erwartest du jemanden?", fragte er verwirrt und ging zur Tür.
„Nein. Wieso sollte ich?" Die Leute die wussten, dass ich hier war, würden mit Sicherheit nicht klingen. Während er die Tür öffnete, holte ich mir ein Glas Wasser. Allerdings spuckte ich dieses gleich wieder aus, als ich im Flur eine mir wohlbekannte und wütende Stimmte vernahm.
„Wo ist sie? Lass mich durch!", brüllte Jonas und stürmte an Julien vorbei.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie in meiner Wohnung?", fragte Julien und wirkte recht gefasst, dafür, dass gerade ein wütender Fremder versuchte in seine privaten Räume einzudringen.
Jonas stand jetzt mitten im Wohnzimmer und drehte sich suchend um die eigene Achse.
Als er mich sah, stoppte er abrupt und seine Augen scannten meine Kleidung ab.
„Es ist nicht wonach es aussieht!", rechtfertigte ich mich sofort, als ich seinen anklagenden Blick sah.
„Du kannst es mir erklären, wenn wir im Auto sind.", brauste er wieder auf, kam auf mich zu und griff nach meinem Handgelenk.
„Jo.", sagte ich ruhig, aber er reagierte nicht. „JO!", rief ich. Er hielt an und drehte sich zu mir um.
„Ich möchte vielleicht noch nicht gehen.", sagte ich schüchtern.
„Wir gehen jetzt.", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und zog mich an meinem Handgelenk zur offenen Tür.
„Jonas! Lass mich los! SOFORT!" Warum reagierte er so? Weil er Julien nicht kannte? Hatte er gedacht, er würde mein einziger männlicher Freund für den Rest meines Lebens bleiben?
Julien schloss die Tür und versperrte uns den Weg nach draußen.
„Also, Sie sind Jonas. Und Sie sind bitte wer?", wollte er mit verschränkten Armen wissen.
„Das geht Sie einen feuchten Dreck an.", knurrte Jo leise.
„Okay. Kein Grund gleich so freundlich zu sein.", lächelte Julien, schritt nebenbei zwischen mich und Jo und brachte mich so unbemerkt aus der Gefahrenzone.
„Ich werde gleich richtig freundlich.", flüsterte Jo leise und starrte Julien herausfordernd an.
Die beiden standen sich so nah gegenüber, dass ich befürchtete, sie würden in wenigen Sekunden auf einander losgehen. Bevor das jedoch geschehen konnte, stellte ich mich zwischen die beiden Streithähne und schob sie auseinander. Jonas sah mich missbilligend, Julien anerkennend, an.
„Schluss jetzt! Ihr benehmt euch echt kindisch.", warf ich ihnen mit strenger Stimme vor.
Julien musste sich ein Lachen verkneifen, während Jo mich wütend ansah.
„Jo, ich glaube es ist besser wenn du jetzt gehst." Mit der Hand wies ich ihn in Richtung der Tür. Wenn ich weitermachte, würde er wohl gleich in die Luft gehen. Ich wusste, wie aufbrausend er sein konnte und dass er deswegen schon das ein oder andere Mal, von der Polizei abgeholt worden war. Das wollte ich nach Möglichkeit vermeiden.
„Nur wenn du mitkommst.", beharrte er und blanker Zorn loderte gefährlich in seinen Augen. Die Drohung in seinen Worten, war nicht zu überhören. Aber ich wollte noch nicht gehen. Mir gefiel es hier. Außerdem grauste es mich bei dem Gedanken, in Juliens viel zu großen Sachen auf die Straße zu gehen.
„Ich bin kein Spielzeug, das man nach Belieben herumschubsen kann. Ich bin siebzehn, Jo. Ich bin alt genug um selbst zu entscheiden, was ich wann, wo und mit wem unternehmen möchte. Ich bin dir unsagbar dankbar dafür, dass du in jeder schwierigen Zeit meines Lebens zu mir gehalten hast. Aber es ist nicht mehr wie früher. Wir sind keine Kinder mehr. Ich werde deine Hilfe nicht mehr brachen. Zumindest nicht wenn sie so aussieht."
Das klang vielleicht ein bisschen melodramatisch, aber es war wahr. Wenn er mir überall hin folgte und kontrollierte wo und mit wem ich mich traf, dann wollte ich seine „Hilfe" nicht.
Er hatte sich verändert. Ich mich ebenfalls. Zwischen uns hatte sich etwas verändert.
Jonas nickte und ging. Hinter ihm knallte die Tür mit einem lauten Knall in die Angeln.
„Ich hasse unangekündigten Besuch.", murmelte Julien und schüttelte den Kopf.
Allerdings wurde mir erst bewusst was ich getan hatte, als ich sah wie der GLA mit quietschenden Reifen von der Einfahrt raste.
Ich hatte wahrscheinlich gerade meinen besten und einzigen wirklichen Freund in meinem Leben verloren.
„Mach dir keine Sorgen. Er wird dir verzeihen.", versicherte Julien.
Wenn ich auch nur so zuversichtlich denken könnte wie er...

Schattenkette (PAUSIERT!)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt