Plan B

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Der Schultag zog sich heute echt in die Länge und obwohl ich versuchte nicht daran zu denken, ging Julien mir nicht mehr aus dem Kopf. Besser gesagt, sein Kuss unter der Treppe. Ich hatte keine Ahnung warum, aber irgendwie Verletzte es mich, dass Julien auch zu diesen oberflächlichen Idioten gehörte. Aber was hatte ich erwartet? Dass er vor mir auf die Knie fiel und mir seine Liebe gestand? Mit Sicherheit nicht. Müde warf ich einen Blick auf die Uhr über der Tür. In 10 endlos langen Minuten war dieser miserable Schultag endlich vorüber. Englisch bei Frau Klassen war mal wieder so langweilig, wie die Beschreibung einer brennenden Kerze im Radio. Nur mühsam gelang es mir, ein Gähnen zu unterdrücken. Als ich einen Blick auf meinen Block warf, erschreckte ich mich. Überall auf dem Blatt stand sein Name. Wann war das denn bitte passiert? Offenbar war mein Unterbewusstsein dabei mir einen Streich zu spielen. Einen Streich den ich absolut NICHT witzig fand. Endlich gongte es und der Tag war vorbei. Schnell riss ich den verräterischen Zettel aus meinem Block, knüllte ihn zusammen und zerriss ihn. Hätte ich ein Feuerzeug besessen, hätte ich die einzelnen Schnipsel wahrscheinlich noch verbrannt. Doch so musste ich mich damit begnügen, sie in den Papierkorb zu werfen. Em hatte eine Stunde früher ausgehabt und war damit natürlich auch nicht mehr auffindbar. An meinem Spind angelte ich mir meinen Rucksack heraus und wollte gerade Richtung Ausgang flüchten, als ich sah wer sich vor mir versammelt hatte. Samantha und ihre hirnlosen Zombieanhänger, genannt "Freunde"! Gerade wollte ich mich umdrehen und zum anderen Schultor flüchten, da hallte ihre Stimme bereits durch den Flur.
"Ach seht mal! Was haben wir denn da?", fragte sie gehässig, während ich mich ihr zuwandte. Bleib ruhig, sagte ich mir selbst.
"Hey Stone hast du dich verlaufen oder warum bist du hier? Ich hab gehört, dass du dich wohl heute Nacht mit etwas zwielichtigen Typen im alten Villenviertel rumgetrieben.", provozierte sie.
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht.", knurrte ich und in meinem Kopf spuckte immer noch die Szene von ihr und Julien. Um uns herum tummelten sich immer mehr Schüler.
"Hast du endlich jemanden gefunden der es dir mal besorgt, Freak?", fragte sie und in mir drinnen brannte eiskalte Wut auf.
Gerade überlegte ich, was ich darauf antworten sollte, als eine dunkle Stimme durch den Gang hallte. "Ja, dieser jemand bin ich." Keine vier Sekunden später stand Julien neben mir.

Überrascht sah ich ihn an. Was hatte er vor? Er lächelte mich an und legte mir den Arm um die Schultern. Alle anderen starrten ihn an, als sei er verrückt.
„Du weißt, dass dich das deinen Ruf kosten kann?", hauchte ich leise während er mich an sich drückte.
„Ach, scheiß auf meinen Ruf. Diesen Spaß lasse ich mir doch nicht entgehen. Spiel einfach mit.", erwiderte er. Oh mein Gott. Ich musste mehrfach tief durchatmen, denn ich war mir seiner Nähe mehr als bewusst. Seine Bauchmuskeln berührte meine Seite und ich hatte Schwierigkeiten normal weiter zu atmen. Außerdem was sollte das? Ich konnte mich alleine wehren. Mir hatte noch nie jemand geholfen. Aus guten Grund: Ich war der Freak dieser Schule. Um mich machte jeder einen großen Bogen. Dass jetzt plötzlich jemand da war, der mir half, war etwas ganz Neues. Aber ich wollte mir nicht helfen lassen. Erst nicht von jemandem wie ihm. Mein Körper versteifte sich und ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, aber keine Chance. Genauso gut hätte ich versuchen können, einen Banktresor zu öffnen. Samantha und ihre Anhänger jedenfalls sahen aus, als hätte man ihnen gerade gesagt, dass Prada out, und H&M in sei. Okay, er hatte Recht. Diese Gesichter waren amüsant. Sehr sogar.
Ich lächelte provokant, als Samantha mir im Vorbeigehen „Das wirst du mir büßen, Stone.", zuflüsterte und dann mit ihrer Gefolgschaft abrauschte. In all meiner Zeit auf dieser Schule war das das erste Mal, dass sie sprachlos war. Nun ja, sprachlos war etwas anderes, aber immerhin hatte sie nur noch eine leere Drohung übrig.
Ein „Das war lustig." Neben mir holte mich zurück in die Wirklichkeit und zeigte mir, dass es gar nicht mein Verdienst war, dass Sam abgedampft war und mich in Ruhe ließ.
„Ich brauche deine Hilfe nicht.", giftete ich los und befreite mich endlich aus Juliens Umarmung. Er zog die Augenbrauen zusammen und blickte mich verwirrt an.
„Ich bin bis jetzt eigentlich immer ganz gut alleine klargekommen. Das muss sich nicht unbedingt ändern, nur weil da so ein dahergelaufener gutaussehender Macho plötzlich der Meinung ist, er müsse seinen Beschützerinstinkt an mir ausleben."
Die eben noch vorhandene Verwirrung auf seinen Zügen wich Ärger und Arroganz.
„Was regst du dich denn jetzt so auf? Es war doch alles okay?!", fragte er.
„Hier ist nichts „okay"!", brüllte ich schon fast.
„Gut, dann erklär es mir.", bat er und drückte mich im nächsten Moment an die Schließfächer hinter mir.
„Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig.", keifte ich und dann geschah etwas Seltsames. Er blickte mir tief in die Augen. Und ich hatte das Gefühl, ich würde in seinen zwei blauen Ozeanen ertrinken. Seine Augen waren von solch unergründlicher Tiefe. Seine Hände fuhren meine Schulter entlang aufwärts und die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Wohlige Schauer rannen meinen Rücken hinab. Wenn er weiter machte, würde ich wohl verbrennen. In einem Moment dachte ich das und im nächsten begann die Kette unter meiner Kleidung an eine sonderbare Hitze auszustrahlen. Ich riss mich los und machte einen Schritt rückwärts. Hilfesuchend und irritiert blickte er mich an. Genau in diesem Augenblick knackte es laut und Funken rieselten auf unsere Köpfe nieder. Die Neonlampe flackerte und krachte mit ziemlich viel Dreck und Staub auf den Boden. Um mich herum schrien Leute und flüchteten. Doch das alles war mir egal. Julien und ich beobachteten einander durch den Staub, der um uns herum in der Luft flirrte. Es gab nur uns. Es war als hätte die Welt aufgehört sich zu drehen. Die Zeit stand still. Alles um uns herum lief  in Zeitlupe ab.
Das was hier passierte durfte nicht passieren. Nie! Als ich spürte, dass mir Tränen in die Augen stiegen, drehte ich mich um und rannte weg. Das was wir hatten, war falsch. Wir durften es nicht.
Ich wusste nicht, warum ich so etwas dachte. Aber irgendwie erschien es mir richtig, denn diese komische Verbindung die mich zu Julien zog war unheimlich. Er sollte zurück in das Loch kriechen aus dem er gekommen war und aufhören mein Gefühlsleben ins Chaos zu stürzen. Natürlich hörte ich ihn meinen Namen rufen, doch es war mir egal. Ich rannte aus dem Schulgelände und in Richtung U-Bahn. Erst als ich mich völlig fertig in einer der Toilettenkabinen, vor den Gleisen einschloss, beruhigte ich mich langsam.
Mehrmals holte ich tief Luft und betrachtete mich dann im Spiegel. Mein Zopf hatte sich gelöst und einzelne Haarsträhnen hingen mir ins Gesicht. Schniefend band ich mir einen Neuen. Danach wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und kramte mein Handy aus dem Rucksack. Warum schaffte ausgerechnet er es mein Leben so durcheinander zu bringen? WARUM ER? Es hätte jeder sein können. Als ich mir sicher war, dass meine Stimme wieder halbwegs stabil war, rief ich Jonas an und sagte ihm, dass er mich nicht abholen müsse. Ich wollte selber nach Hause fahren. Denn dabei konnte ich am besten nachdenken. Und das musste ich jetzt dringen. Ich musste mir einen Notfallplan ausdenken. Einen in dem ich Julien am besten so selten wie es nur möglich war sah. Einen Plan B.

Schattenkette (PAUSIERT!)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt