Vergessen

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Das durfte doch nicht wahr sein! Langsam rutschte ich tiefer auf meinem Stuhl, in der Hoffnung, dass Julien mich vielleicht übersehen würde. Was schwer war, wenn er neben mir sitzen musste. Mit langen Schritten kam er auf mich zu. Seine schwarzen Haare hingen im zottelig in die Stirn und er hatte wunderschöne dunkelblaue Augen. Sie sahen aus wie die tiefsten Tiefen des Ozeans. Seine Schultern waren breit und er war unheimlich groß. Seine Muskeln zeichneten sich definiert unter seinem Shirt ab. Es waren nicht zu viele und nicht zu wenig. Er war perfekt. Zumindest sah er so aus. Und ich? Ich sah aus wie der größte Zombie und wenn ich eines definitiv nicht war, dann perfekt. In diesem Moment schmiss er sich auf den Stuhl neben mir und rückte an mich ran.
"Hi", hauchte er und sah mich unergründlich an.
"Hi.", erwiderte ich zögernd und wägte meine Chancen ab, wie lange er sich wohl mit mir abgeben wollte. Wahrscheinlich bis er erfuhr, dass ich der größte Loser der Schule war.
"Ich bin Julien.", stellte er sich vor. Seine Stimme war unheimlich rau und dunkel und schaffte es mir eine Gänsehaut zu bescheren. Endlich schaffte ich es mich zu überwinden und ihn anzusehen. Oh mein Gott. Er war mir näher, als ich erwartet hatte. Unwillkürlich zuckte ich zurück. Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf seine einmalig geschwungenen Lippen.
"Und du bist?", fragte er.
"Charlotte... ähm... Charly.", stotterte ich und setzte mich wieder aufrecht hin.
Dieses Mal lächelte er wieder. Allerdings nicht spöttisch, amüsiert oder herablassend. Nein, es war ein ehrliches Lachen. Ein verzauberndes Lächeln.
"Okay! Also hi Charly.",
Vergiss ihn Charly, sagte ich mir selbst. Denn spätestens nach der großen Pause, würde ER MICH vergessen haben. Daher drehte ich mich wieder zur Tafel und versuchte ihn zu ignorieren. Nur leider, wollte er das offenbar nicht.
"Und Charly, wo kommst du her? Was machst du? Wo lebst du?", fragte er und rückte noch ein Stück näher an mich.
"Fragst du nur aus Höflichkeit oder willst du das wirklich wissen?", feuerte ich ihm entgegen. Er zog seine linke Augenbraue in die Höhe. "Wenn ich's nicht wissen wollen würde, würde ich nicht fragen. Das kannst du mir glauben!"
Und ich glaubte ihm. Also atmete ich tief ein und begann:
"Ich komme von hier. Spiele unheimlich gerne Klavier und Basketball und wohne etwas außerhalb der Stadt mit ein paar Freunden.", erklärte ich und fuhr mir durch die Haare.
"Mir ein paar Freunden? Klingt spannend!", meinte er und fing an auf seinem Handy rumzutippen.
"Geht schon, ist bisschen chaotisch. Aber ich würde meine Jungs für nichts in der Welt eintauschen wollen."
Könnten wir jetzt bitte aufhören über mich zu reden.
"Und du?", wollte ich wissen um von mir abzulenken.
"Ich? Ich komme aus der Nähe von Berlin. Bin aber in Frankreich aufgewachsen, was meinen komischen Nachnamen erklärt, bin zweimal sitzen geblieben und musste oft umziehen, weshalb ich älter bin als der Durchschnitt hier. Ich lese und male sehr gerne und hab hier noch keine Wohnung gefunden.", erzählte er. In diesem Moment klingelte die Schulglocke und erlöste mich vor weiteren peinlichen Fragen.
"Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Charly. Man sieht sich." Und mit diesen Worten verschwand er aus dem Klassenzimmer. Mit offenem Mund starrte ich ihm hinterher. Gott sei Dank, war er weg. Er war irgendwie scarry. Kopfschüttelnd packte ich meine Sachen zusammen und kam noch nicht einmal bis zum Türrahmen, da packte Em mich schon und zog mich auf die Toilette.
"Ist der nicht heiß? Worüber habt ihr euch unterhalten? Was hat er dir erzählt? Wann trefft ihr euch?", quiekte sie und hüpfte aufgeregt auf der Stelle. Erst mal war ich so überrumpelt, dass ich gar nichts antwortete und dann stoppte ich meine beste Freundin erst mal! "Wow! Wow! Em! Stop! Halt mal die Luft an."
Sofort hörte sie auf zu hüpfen und zog einen Schmollmund.
"Em! Innerhalb der nächsten Stunde wird er erfahren haben, wer ich bin und mich nie wieder auch nur ansehen. Also vergiss es!"
Traurig sah sie mich an. Ich blickte zurück. Aber es stimmte! An dieser Schule war ich ein Niemand. Ich hatte Glück, wenn einer der Lehrer meinen Namen wusste ohne auf die Klassenliste zu sehen.
"Och Maus!", sagte Em mitleidig und schloss mich in die Arme "Irgendwann wird einer kommen und dich so lieben wie du bist. Und wenn er deine inneren Werte nicht wertzuschätzen weiß, dann hat er dich nicht verdient. Und jetzt komm, holen wir uns eine fettige Portion Pizza in der Schulkantine."
Ich seufzte, nahm meine Sachen und ging hinter ihr her Richtung Pausenhalle.
Als wir an der dunklen Ecke unter der Treppe vorbeikamen, wo immer irgendwelche Pärchen rummachten, war es dann soweit und obwohl ich es wusste, tat es mir trotzdem weh. Denn dort stand er. Zusammen mit Samantha, unserer Schulschönheit und knutschte wild. Es war gerade mal sieben Minuten her, dass er sich mir vorgestellt hatte.
Und doch hatte er mich bereits vergessen!

Schattenkette (PAUSIERT!)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt