Töne der Vergangenheit

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Nach dem Frühstück beschloss Julien, mich kurz nach Hause zu fahren damit ich mich umziehen und Wechselkleidung einpacken konnte. Auf dem Weg in die Tiefgarage begegneten wir, Gott sei Dank, niemandem. Denn das wäre auch echt peinlich geworden.
Als wir im Keller allerdings vor dem roten Camaro standen, verließ mich der Mut.
„Du fährst nicht ernsthaft einen Chevrolet Camaro?!", stieß ich ungläubig hervor.
„Warum sollte ich ihn denn nicht fahren?", fragte er erstaunt, drückte auf den Schlüssel woraufhin der Wagen kurz aufblinkte und die Zentralverriegelung sich entsperrte.
„Der Preis für das Cabrio fängt bei knapp 45.000€ an. Dafür kriegt man dann fast 500 PS." Ich wusste, dass ich wie eine Besessene klang aber das war mir egal. Ich meine hallo? Er fuhr mit 20 einen Chevrolet Camaro!
„800 PS.", korrigierte er stolz. „Hab ein bisschen dranrumgebastelt. Und wenn wir schon bei korrekten Fakten sind: Das ist der 2014er Chevrolet Camaro Convertible. Der Traum eines amerikanischen Muscle cars. Neben dem 86er Shelby GT 500er. Aber der war dann auch für mich ein wenig zu teuer."
Mir klappte wahrhaftig die Kinnlade runter. Wer konnte bitte sagen, dass er - mit 20 - einen Camaro fuhr? Und ich durfte darin mitfahren. Oh mein Gott. Ich freute mich darüber, wie ein kleines Kind, dass eine Extraportion Eis bekam.
„Wenn du magst, darfst du ihn auch mal fahren.", schlug er vor.
„Ich?" Ich glaubte ich hatte mich gerade verhört. Meinen Führerschein hatte ich schon seit einiger Zeit in der Tasche, aber ich durfte ja erst mit 18 ohne Begleitung fahren.
„Das willst du nicht wirklich.", winkte ich ab und stieg ein.
Sein Lachen hallte von den Wänden der Tiefgarage wider und ließ mich lächeln. Mir kam das hier vor wie ein wunderschöner Traum, aus dem ich nie aufwachen wollte. Niemals. Wenn das die Ewigkeit war, dann wollte ich tot sein.
Als Julien den Motor aufheulen ließ, brachte ich nur ein „Oh Gott wie geil!" hervor und als der Rote glänzend in die Sonne eintauchte, hätte ich durchdrehen können.
Bewundernd beobachtete ich wie draußen alles zu einem wilden Farbgemisch wurde, als Julien auf der Autobahn auf fast 240 Km/h beschleunigte. Sein Blick lag konzentriert auf der Straße vor sich. In meinem ganzen Leben, war ich noch nie so schnell gefahren. Aber es gefiel mir. Aus dem Radio tönte Katy Perry mit „Unconditionally".
„Hörst du Minette. Sie spielen unser Lied.", sagte er leise und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Es stimmte. Irgendwie passte der Song zu unserer Situation.
„Wenn meine Worte dich nicht erreichen, dann tuen es vielleicht die eines anderen. Also:

Komm einfach so wie du bist zu mir.
Du brauchst dich nicht zu entschuldigen,
Wisse, dass du wirklich wertvoll bist,
Ich werde dich mit deinen guten und schlechten Tagen nehmen.
Durch diesen Sturm laufen, würde ich für dich.
Ich würde das alles tun, weil ich dich liebe.
Ich liebe dich."

Übersetzte er und beinahe wären mir schon wieder die Tränen gekommen.
„Du bist blöd.", schluchzte ich trocken und schlug ihm sanft gegen die Schulter.
„Wieso?", fragte er lachend und bremste auf 90 Km/h runter, da sich vor uns ein Stau gebildet hatte.
„Weil du so etwas sagst.", erklärte ich und wischte mir eine Träne aus den Augenwinkeln.
„Och Minette, wenn es etwas gibt, dass ich ganz bestimmt nicht will, dann das du wegen mir weinst." Da wir ja gerade eh standen, legte er seine Hand unter mein Kinn und drehte es zu sich.
Ich lächelte matt. „Tut mir leid. Es ist nur so, dass es plötzlich jemanden gibt, der in mir nicht den Freak oder die elternlose Schlampe sieht. Und dass ist ein Gefühl, dass ich vorher nicht kannte. Ich muss erst lernen, damit umzugehen."
Seine Lippen verzogen sich zu einem unsicheren Lächeln. „Was meinst du denn wie es mir geht? Alle anderen haben mir doch nichts bedeutet jahrelang und dann kommst du und stürzt meine Emotionen ins Chaos."
„Was heißt jahrelang?", fragte ich und hoffte dieses Mal auf die eine oder andere Antwort.
„Charly vertraust du mir?" Seine Mine verfinsterte sich mit einem Schlag.
„Ja. Warum?" Mir war bewusst geworden, dass seine Vergangenheit etwas war, über das er nicht oder nur ungern redete. Aber warum? Was konnte er denn so schlimmes getan haben? Vielleicht war er ja in einem Orden aufgewachsen, in dem man ihn zu einem leisen Killer ausgebildet hatte. Ich grinste über diesen albernen Gedanken.
Wahrscheinlich hätte ich nicht mehr gelacht, wenn ich gewusst hätte, wie richtig ich mit diesem Gedanken lag.
Seine Hände verkrampften sich kurz um das Lenkrad. „Ich habe in meiner Vergangenheit Sachen getan..." Es schien als suche er nach den richtigen Worten. „... auf die ich nicht sehr stolz bin. Lass uns eine Abmachung treffen. Ich bringe dir bei ein wenig selbstbewusster aufzutreten und im Gegenzug wirst du mich nie wieder nach meiner Vergangenheit fragen, okay?" In seiner Stimme schwang mühsam unterdrückter Zorn mit.
Ich wusste nicht, warum ich so schnell einwilligte. Jedenfalls tat ich es. Zum einen war ich zu verliebt um weiter nach zu haken, zum anderen machte er mir gerade ein wenig Angst.
Wie schwer konnte es schon werden, eine Beziehung zu führen ohne auch nur ein kleines bisschen über das bisherige Leben seines Partners zu wissen? Ich sollte noch erfahren wie schwer.
„Danke Minette." Er lächelte wieder als wäre nichts gewesen. Seine Reaktion verunsicherte mich. Zum Grübeln blieb mir allerdings nicht mehr viel Zeit, da einer der LKW-Fahrer neben uns in ein bewunderndes Hupen ausbrach. Vor Schreck zuckte ich kurz zusammen.
„Da scheint sich wohl noch jemand anders über deinen Wagen zu freuen.", lachte ich und winkte dem begeisterten Lastkraftwagenfahrer zu.
„Das ist das tolle an dem Wagen. Macht anderen genauso eine Freude wie sich selber."
Um noch ein bisschen anzugeben, ließ er den Motor ein paar Mal laut aufheulen und fuhr mit quietschenden Reifen von der Autobahn auf die Landstraße.
„Wie gesagt, das Angebot steht. Wenn du ihn fahren möchtest zeig ich dir wie, Minette."
Wild fuchtelnd tat ich seinen Vorschlag ab.
„Was heißt „Minette" eigentlich?", versuchte ich ihm zu entlocken.
„Das würdest du wohl gerne wissen, hm?", lachte er.
„Sonst würde ich wohl nicht fragen." Ich zog meine Augenbrauen in die Stirn und musterte sein lächelndes Profil.
„Ich sage es dir aber trotzdem nicht. Tut mir leid.", sagte er als er mein schmollendes Gesicht sah. In diesem Moment bogen wir auf meine Einfahrt und mir kam ein Geistesblitz.
„Woher hast du meine Adresse?"
Er warf mir einen Blick zu den ich nicht einschätzen konnte und antwortete:
„Stand in deinem Perso." Dann öffnete er das Handschuhfach und gab mir meine Handtasche.
„Danke.", brachte ich nur hervor und stieg aus.
Als ich vor der Schnauze des Camaros stand, schüttelte ich den Kopf.
„Ich fasse es einfach immer noch nicht, dass das dein Auto war."
„Wann hast du es denn schon mal gesehen?", fragte er irritiert und legte seinen Arm um meine Taille.
„Beim Klavier spielen. Im alten Villenviertel."
„Das warst du?" Seine Augen zogen sich verwundert in die Höhe.
„Jaaa.", meinte ich langgezogen.
„Warum spielst du denn ausgerechnet dort in diesem stillgelegten Gelände."
Ich hatte gehofft, dass er nicht fragen würde. Aber er tat es natürlich doch.
„Weil ich es liebe. Für mich gibt es nur diesen einen Flügel. Es ist der Klang der mich in seinen Bann zieht. Die Töne die mich begeistern." Oh Gott war das peinlich, ich klang wie eine Idiotin. Eine ziemlich große.
„Dann zeig es mir.", forderte er und umarmte mich.
„Du hast es doch schon mal gehört.", versuchte ich ihn davon abzulenken. Es war etwas anderes wenn man mir nur zuhörte, aber wenn ich wusste, dass außer mir noch jemand im Raum war und mir wohlmöglich auch noch auf die Finger sah, wurde ich ganz aufgeregt und bekam allein schon bei dem Gedanken daran hektische rote Flecken im Gesicht. Und wenn dieser Jemand dann auch noch Julien DuCraine war, wurde mir jetzt schon schlecht.
„Ich möchte es aber gerne noch mal hören.", bestand er darauf und zog mein Gesicht näher an das seine.
„Ich könnte dir noch ganz andere Sachen zeigen...", sagte ich mit verschwörerischer Stimme. Er beugte sich nach vorne und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. Ich löste mich von ihm und grinste. Bevor wir das hier allerdings weiter vertiefen konnten, wurde in einem der Stockwerke über uns im Hof, ein Fenster geöffnet und nicht eine Sekunde später rief Jass zu uns hinunter: „Hey Charly willst du mir den netten jungen Mann an deiner Seite nicht vielleicht hier oben vorstellen?"
Ich stöhnte und knallte meinen Kopf gegen Juliens Brust. „Oh Mann." Sein Körper vibrierte als er lachte und mich auf den Scheitel küsste. Danach gingen wir durch das weiße Treppenhaus in meine Wohnung. Jass stand schon an der offenen Tür und grinste blöd, während wir unsere Jacken aufhingen.
„Und Sie sind?", fragte sie und streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich bin Julien. Charlys Freund." Er ergriff sie und hatte das beste „Schwiegersohn"-Lächeln auf den Lippen, das ich je gesehen hatte. Kein Wunder, dass Jass so dümmlich dreinblickte.
„Und Sie sind dann bestimmt Jasmina Reimann, Charlys Heimleiterin."
Sie tat seine Worte mit einem Winken der rechten Hand ab und bat ihn herein.
„Ganz so dramatisch würde ich das nicht ausdrücken, aber in etwa haben Sie Recht. Kann ich Ihnen etwas Gutes tun? Kaffee, Tee, Cola?"
„Och nein. Vielen Dank Miss Reimann. Wir wollten eigentlich gleich wieder los. Charly und ich wollten das Wochenende gemeinsam verbringen. Ich würde sie am Montag nach der Schule natürlich auch wieder hier her bringen." Er legte all seinen Charme in diese Worte und da war es natürlich kein Wunder, dass Jass nur nicken konnte.
„Klar, viel Spaß ihr zwei."
„Okay. Ich geh dann mal kurz meine Sachen packen und mich umziehen." Kichernd ging ich den Flur entlang und in mein Zimmer. Hinter mir hörte ich wie Julien herumdrugste und versuchte von Jass loszukommen. Was schwer war, wenn sie einen erst mal in ihren Fängen hatte. Kurze Zeit später, ich war gerade dabei mir einen passenden Pullover anzuziehen und Juliens Sachen in meinem Schrank zu verstecken, als er auch schon herein kam.
„Hast du es auch noch geschafft?", scherzte ich grinsend, während er hinter sich meine Zimmertüre schloss und aufatmete. „Gott. Wie hältst du das nur aus?"
„Gar nicht, so ist sie sonst nämlich nicht." Ich kicherte mädchenhaft und packte einige Kleidungsstücke in meine Sporttasche.
„Deine Sachen stehen dir auch gut.", stellte er mit schiefgelegtem Kopf fest und grinste diabolisch.
„Aber deine Kleidung war viel bequemer und roch besser."
„Du findest ich rieche gut?"
Ich lachte zur Bestätigung. In diesem Moment öffnete sich meine Zimmertür und Chris stolperte herein. Sein Haar war zerzaust, die Augen müde und er trug eine viel zu weite karierte Hose und kein Oberteil. JA. Er war nackt. Zumindest zur Hälfte. Aber immerhin konnte er es sich erlauben.
„Hey Charly? Hast du meine... Oh!" Erst jetzt bemerkte er, dass ich nicht alleine war.
„Wie ich sehe, hast du Besuch. Tut mir leid. Ich wollte wirklich nicht stören."
Was war heute nur los? Erst Jass und jetzt Chris.
„Okay." Nervös fuhr ich mir durch die Haare. Jetzt war es eh zu spät. „Wenn wir schon dabei sind: Chris, das ist Julien mein Freund. Julien, das ist Chris. So etwas wie mein Bruder."
Nachdem Julien seine ersten Schrecken überwunden hatte, reichte er Chris die Hand und die beiden begrüßten sich. Freundlich aber distanziert. Nachdem Chris wieder verschwunden war, drehte Julien sich wieder zu mir. „Laufen bei dir immer halbnackte Männer rum, die aussehen wie junge Götter?"
„Höre ich da etwa Eifersucht aus deiner Stimme?", triezte ich ihn grinsend.
„Ein wenig vielleicht.", gab er zu.
„Oh glaub mir, momentan hab ich nur Augen für dich." Ich blinzelte ihm zu und schlang meine Arme um seinen Nacken. Er seufzte und hob mich hoch.
„Das will ich doch mal schwer glauben." Sanft küsste er mich auf die Nasenspitze und setzte mich wieder ab. In diesem Augenblick öffnete sich meine Zimmertüre erneut. Chris steckte den Kopf herein und sagte grinsend: „Also bist du doch schwanger!".
„Raus hier!", rief ich entsetzt und warf ein Kissen nach ihm. Kichernd verschwand er im Flur.
„Muss ich da etwas wissen? Du bist schwanger? Von wem? Von ihm?" Verwirrt huschte sein Blick von mir zu meinem Bauch. „Da sieht man ja gar nichts.", stellte er dann fest.
„Natürlich sieht man da nichts, weil da nichts ist. Das war typisch Chris...", lachte ich. Sein Gesicht war wirklich zu köstlich. Vielleicht hätte ich ihn doch in dem Glauben lassen sollen.
Erleichtert stieß er die Luft aus. „Gott sei Dank."
Kopfschüttelnd zog ich ihn aus der Tür und raus aus der Wohnung. Schnell huschten wir an Jass vorbei, bevor ich die Tür ins Schloss werfen konnte, verabschiedete ich mich laut und wir gingen runter in den Innenhof. Vor Juliens Camaro stand dann der Rest meiner WG-Mitbewohner.
„Charly!", rief Max enthusiastisch als er mich sah „Das musst du dir ansehen. In unserer Einfahrt steht ein Chevrolet Camaro. Ich glaubs nicht." Sein Grinsen reichte über das ganze Gesicht.
„Das... Dieses Auto ist der Hammer. Ich wünschte ich könnte mal mitfahren.", meinte er verliebt und streichelte über die Motorhaube. So gesprächig hatte ich noch nie erlebt. Aber es stand ihm. Besser als diese stille, zurückhaltende Seite. Hinter mir kam Julien aus den Schatten der Hauswand und ließ seinen Schlüssel über dem Zeigefinger kreisen.
„Ich glaube das lässt sich einrichten.", meinte er und hielt Max die Hand entgegen. „Hi. Ich bin Julien. Charlys Freund."
Max Augen weiteten sich ungläubig, als er das Emblem auf dem Autoschlüssel sah. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er auch noch angefangen hätte zu sabbern. Aber er fing sich wieder und schüttelte Juliens Hand.
„Und das ist deiner?" Das Glänzen in seinen Augen, verriet wie aufgeregt er war. Ich hatte ihn selten so offen und gut gelaunt erlebt. Aber es war toll und ich freute mich, dass er etwas gefunden hatte, was in aus der Reserve lockte.
„Sieht ganz so aus, ja. Wie gesagt, dass Angebot steht. Ich bringe Charly morgen nach der Schule nach Hause, wenn du möchtest, können wir beide dann mal ne Runde um den Block drehen."
„Ja, das wäre toll!", schrie er schon fast. „Ich meine natürlich, nur wenn es dir keine Umstände macht."
„Tut es nicht. Also morgen. Ich freu mich.", verabschiedete Julien sich und stieg auf der Fahrerseite ein. Max verdrehte die Augen, als Julien mit extra lautem Sound aus der Einfahrt fuhr.
„Also den kleinen mag ich.", erklärte er dann und nahm meine Hand auf der Armlehne.
„Ich finde es toll, dass du ihm eine Freude machen willst. Er ist sonst immer so verschlossen und kann sich für fast nichts erwärmen. So aufgeregt wie eben, habe ich ihn noch nie erlebt, seit seine Eltern vor vier Jahren ums Leben gekommen sind und er zu uns kam."
„Wenn ich dir damit auch eine Freude machen kann, tue ich es noch lieber." Sein Lächeln schwoll an.
„Max ist so etwas wie ein kleiner Bruder für mich. Ich möchte nur, dass er glücklich ist."
Wortlos nahm Julien meine Finger und küsste jeden einzelnen. Ich seufzte wohlig.
„Okay und jetzt, lass uns in die Töne der Vergangenheit eintauchen.", sagte ich, als er den roten Camaro wieder auf dem Schotterweg im Wald vor dem alten Villenviertel parkte. In meinem inneren wuchs die Aufregung. Töne der Vergangenheit. Das in etwa traf es. Ich hatte mit dem Klavier spielen angefangen, weil es mich irgendwie mit meinen blockierten Erinnerungen an meine Eltern verband.
Töne der Vergangenheit. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Das klang gut. Sehr, sehr gut.

Schattenkette (PAUSIERT!)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt