Neustart

1K 95 14
                                    

Als ich meine Augen wieder aufschlug, war mir schlecht. Stöhnend rollte ich zur Seite und hielt mir die Arme auf den Kopf gepresst. Was war passiert? Während ich zusammengerollt auf dem Bett lag kam die Erinnerung an die letzte Nacht und mit den Erinnerungen die Fragen. Mit einem Schlag war ich hellwach. Das hier war gar nicht mein Bett und ich trug über meiner Unterwäsche auch nicht meine Kleidung. Panisch sprang ich aus dem Bett und stürzte gleich wieder mit einem dumpfen Knall zu Boden. Keine Sekunde danach wurde die Tür geöffnet und Julien stürmte herein. JULIEN!!! Er kam zu mir und wollte mir aufhelfen, aber ich schlug seine Hände weg.
„Behalt deine Finger bei dir.", zischte ich, blinzelte ihn gefährlich an und rappelte mich langsam auf. Der Raum drehte sich bedächtig und ich taumelte etwas. Er griff nach meinem Ellenbogen und stütze mich. Seine Berührung fühlte sich gut an. Sehr gut, um ehrlich zu sein. Aber das würde ich mir nicht eingestehen. Ich sah ihn böse an, aber das beeindruckte ihn nicht wirklich. Er musterte mich skeptisch und führte mich in die Küche. Eine mir unbekannte Küche.
„Wo bin ich?", fragte ich leise und drückte mir die flachen Hände aufs Gesicht. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. So ein Sch...
„Bei mir. In meiner Wohnung.", antwortete Julien und setzte sich mir gegenüber, nachdem er mir ein Glas mit etwas trüben drinnen vor die Nase gestellt hatte.
„Was ist das?" Mein Blick ruhte auf dem Zeug vor mir.
„Aspirin. Hat dich heftig erwischt.", meinte er, zog eine Augenbraue hoch und ließ mich nicht aus den Augen, als fürchte er, ich könnte jede Sekunde tot vom Stuhl fallen. Bei dem Satz den er sagte, musste ich unwillkürlich an Davids Gesicht über mir denken. An sein Grinsen, seinen Atem, seinen Blick. Eine Gänsehaut überkroch meine Arme und ich kippte schnell den Inhalt des Glases.
„Was ist passiert?", wollte ich wissen und massierte mir meine Schläfen mit geschlossenen Augen.
„Er hat dich angegriffen und ich bin dazwischen gegangen." Er sagte das, als wäre es das normalste der Welt.
„Warum warst du überhaupt da?" Ein übler Verdacht überkam mich.
„Ich glaube, ich brauche gar nicht erst versuchen dich anzulügen, oder?", stellte er die Gegenfrage.
Ich nickte leicht zur Bestätigung und bereute es sofort wieder. Mir wurde so schlecht, dass ich befürchtete das bisschen Wasser von eben käme mir hoch. Leise stöhnte ich und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein wandelnder Geist. Aber das war mir jetzt wirklich egal.
„Ich bin dir gefolgt.", gab er direkt zu und sah mir dabei in die Augen, um meine Reaktion abschätzen zu können.
„Was bist du? Irgend so ein kranker Psychopath, der seine Opfer gerne erst mal näher kennenlernen will? Oder einfach nur ein ganz normaler Stalker?" Mir war bewusst, dass jeder meiner Vorschläge albern klang und das die Fragen eigentlich total unnötig waren, da wir beide wussten, dass er nichts davon war. Es war komisch, aber in seiner Nähe fühlte ich mich irgendwie sicher.
Ein Lächeln umspielte seine Lippen und er wandte kurz den Blick ab. Allerdings lange genug, damit ich mich umsehen konnte und bemerkte, dass auf der Couch eine Bettdecke lag. Das hieß, dass ich in SEINEM Bett geschlafen hatte. Ich schluckte trocken.
„Ich hatte geahnt was du vorhattest und bin dir gefolgt, ja. Aber was hätte ich tun sollen? Zulassen, dass er dich vergewaltig oder schlimmeres?" Seine Stimme brauste zornig auf und ich schreckte zurück. Seine Haare waren noch immer vom Schlafen zerzaust und standen in alle Richtungen ab. Er trug nur ein weites Shirt und eine Jogginghose, die gefährlich tief auf seinen Hüften saß. Ich merkte wie die Röte mir in die Wangen schoss und verbarg das Gesicht in den Händen.
„Danke.", wisperte ich dann nach einiger Zeit. Überrascht sah er mich an.
„Es tut mir leid, dass ich so blöd zu dir war, aber..." Was tat ich hier gerade? Ich wurde schwach. Oh mein Gott, aber er sah wirklich zu heiß aus und das er mich gestern Abend vor David gerettet hatte, tat sein Übriges.
„Ich glaube eher, dass ich dich um Verzeihung bitten sollte. Ich weiß, dass das was ich getan habe nicht unbedingt so großartig war.", setzte er etwas verlegen an. Julien DuCraine war verlegen?! Mir gegenüber?! Sicher, dass ich nicht immer noch bewusstlos war?
Danach legte sich peinliches Schweigen über uns. Ich blickte peinlich berührt zu Boden und er fuhr sich durch die Haare.
„Ich glaube wir lassen das mit dem Entschuldigen lieber und fangen nochmal von vorne an", schlug ich vor und hielt ihm meine Hand entgegen.
„Hi! Ich bin Charly und du bist bestimmt Julien. Der Neue."
Juliens Blick huschte irritiert von meiner Hand zu meinem Gesicht, ehe er lächelte und sie ergriff. Etwas, das einem Stromschlag griff durchzuckte uns bei dieser Berührung. Allerdings war es nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil.
„Hey. Stimmt. Ich bin Julien. Julien DuCraine. Und? Magst du lieber Rühr- oder Spiegelei?", lachte er.
Eigentlich wollte ich ja sauer auf ihn sein, weil er mich nicht nach Hause gebracht hatte...
Zuhause! Jass! Sie wussten nicht wo ich war! Meine Ruhe war wie weggeblasen. Julien bemerkte offenbar, was ich plötzlich hatte, denn er sagte:
„Keine Sorge. Ich habe bei Frau Reimann angerufen und gesagt, dass es gestern Abend ein wenig länger geworden ist und du bei mir übernachtest. Sie hat sogar meine Adresse.", erklärte er und holte Eier aus dem Kühlschrank. Erleichtert atmete ich auf.
„Und das hat sie dir geglaubt?", fragte ich misstrauisch.
Er lächelte verschwörerisch. „Sagen wir es mal so: Ich habe meinen Charme spielen lassen müssen. Und? Rührei oder Spiegelei?"
Ich lachte, auch wenn es hinter meiner Stirn schmerzte. „Rührei, bitte. Soll ich dir helfen?"
„Oh nein! So wie du dir den Kopf angeschlagen hast, wirst du dieses Wochenende gar nichts machen. Du wirst schön genau da sitzen bleiben und dich von mir verwöhnen lassen.", sagte er, aber ich glaubte sofort, dass er es ernst meinte und zur Not auch nachhelfen würde.
„Kann ich dann wenigstens kurz duschen?", versuchte ich es.
„Nur unter einer Bedingung. Wenn du nicht abschließt. Ich schwöre, ich werde nicht spannen. Aber wenn etwas passiert, kann ich schneller bei dir sein und muss nicht erst die Tür eintreten."
Okay, damit könnte ich leben. Oder würde es müssen.
„Das Bad ist die Tür dort." Er zeigte auf eine weiße Tür schräg hinter mir.
„Ich leg dir Kleidung raus, die du erst mal tragen kannst. Denn deine ist hinüber."
Ich zog die Augenbrauen hoch und stand auf. Erneut wurde mir schwindelig und ich stolperte über meine eigenen Füße. Bevor ich hinfallen konnte, war Julien an meiner Seite und fing mich auf.
„Danke.", flüsterte ich heiser.
„Bist du sicher, dass du das schon schaffst?" Ernsthafte Besorgnis sprach aus seinen Augen. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Seine Lippen einladend nah. Ich konnte seinen Atem auf meinem Gesicht spüren. Er fixierte meine Lippen ebenfalls, als müsste er abwägen ob er es wagen sollte. Langsam kam er näher. Ich hielt den Atem an. Ich wollte, dass er mich küsste.
Im letzten Moment - unsere Lippen hatten sich schon fast berührt - fuhren wir beide gleichzeitig auseinander. Das war falsch. Mit hochrotem Kopf floh ich schon fast ins Bad.

Schattenkette (PAUSIERT!)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt