Ewiger Tag

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Nach Englisch versuchte ich Julien den Rest des Tages aus dem Weg zu gehen. Aber ich konnte machen was ich wollte. Er hatte sich scheinbar in den Kopf gesetzt, mich nicht aus den Augen zu lassen. Als ich während der Pause aus dem Mädchen-WC kam, stand er mir gegenüber an der Wand und knutschte mit Alma, einer aus der 11 Klasse. Obwohl er mit ihr rummachte, zwinkerte er mir zu und flüsterte lautlos: „Ich sehe dich." Danach zollte seine Aufmerksamkeit wieder einzig und allein der armen Alma. Er war jetzt genau... zwei Tage an dieser Schule und hatte es schon geschafft sieben Mädchen das Herz zu brechen. Alle waren in der Hoffnung seine Freundin werden zu können, auf ihn reingefallen und alle waren sehr tief verletzt worden. Aber ganz ehrlich: Nach den ersten drei Mädchen war doch klar geworden, was für eine Art Kerl er war. Von daher hatte ich kaum, bis gar kein Mitleid mehr mit ihnen. Sie wussten doch auf was sie sich mit Julien DuCraine einließen. Also hatte ich wirklich kein Mitleid mit diesen naiven Ziegen. Ich für meinen Teil, würde nicht schwach werden. Auch wenn ich manchmal weiche Knie bekam, wenn er mich ansah. Aber ich würde keine weitere Trophäe in seiner endlos langen Gewinnliste werden. Dafür war ich mir dann doch zu viel wert. Erhobenen Hauptes marschierte ich an Julien und Alma vorbei in Richtung Pausenhalle. Allerdings verfolgten die Geräusche mich noch über den ganzen Flur. Am liebsten hätte ich mir die Hände auf die Ohren gequetscht und wäre weggelaufen. Weit weg. Ganz weit weg. So, dass er mich niemals wieder finden könnte. Okay ja. Ich gebe es auch zu. Er machte mir Angst. Extreme Angst. Aber das ließ ich mir nicht anmerken. So gut es eben ging, wenn man von jemandem seiner Art verfolgt wurde.
In der Cafeteria fand ich dann auch endlich Em. Sie saß an einem der dunkelsten Tische. Was für sie nicht ungewöhnlich war. Ihr blau schimmerndes Auge allerdings schon.
„Ach du scheiße! Emi! Was ist passiert?", schrie ich schon fast. Sie bemerkte mich erst jetzt und winkte direkt ab.
„Du meinst das?" Sie zeigte auf ihr Auge und lachte gespielt. „Du kennst mich doch. Ich alter Schussel bin gegen unsere Haustüre gelaufen."
Ich glaubte ihr nicht. Natürlich glaubte ich ihr nicht. Das war die lahmste Ausrede, seit dem Jesus verraten worden ist und es ärgerte mich, dass sie mich nach all der Zeit, nach all dem was wir zusammen durchgestanden hatten, anlog. Sie log mir mitten ins Gesicht. Warum tat sie das? Ärger wallte in mir hoch, aber ich schluckte in tapfer und setzte mich neben sie.
„Em. Du bist die koordinierteste Person die ich kenne. Du läufst nicht einfach gegen irgendwelche Türen.", sagte ich mit ruhiger Stimme.
„Ich hab dir doch gesagt, was los ist.", beteuerte sie weiterhin.
Ich atmete tief durch, stand auf und meinte dann etwas ungeduldiger als beabsichtigt:
„Okay, ich hole mir jetzt erst etwas zu essen. Und wenn ich wieder komme, würde ich mich sehr freuen, wenn du mir vielleicht die Wahrheit erzählen würdest".
Auf dem Absatz drehte ich mich um und ging zur Essensausgabe. Hinter mir ließ ich eine ziemlich verdatterte Emilia zurück. Was war momentan nur los mit meinem Leben? Als wäre es gerade nicht schon genug, dass meine beste Freundin sich von mir nicht helfen lassen wollte, tauchte just in diesem Augenblick Julien auf und stellte sich hinter mich.
„Na Minette? Was ist denn mit deiner kleinen Freundin passiert? Ist sie hingefallen? Oder hat ihr Freund sie wieder mal verprügelt?", flüsterte er mir in mein Ohr. Über meinen Rücken lief eine Gänsehaut und meine Hände verkrampften sich um das Tablett. Zittrig holte ich tief Luft.
„Das geht dich gar nichts an und mit David hat sie schon lange Schluss gemacht.", verteidigte ich meine beste Freundin. „Und warum erzähle ich dir das alles überhaupt? Das geht dich einen feuchten Dreck an."
„Du magst mich.", stellte er ungeniert fest. „Es dauert nur noch etwas, bis du dir deine Gefühle für mich eingestehen willst."
„Du arroganter Dreckssack.", fuhr ich ihn an. Allerdings gingen mir seine Worte über Em nicht aus dem Kopf. Sie hatte sich von David getrennt, weil er sie geschlagen hatte und nicht nur einmal. Was, wenn sie doch wieder schwach geworden war und ihn reingelassen hatte. Wenn sie es nicht geschafft hatte, von ihm loszukommen? Zorn durchflutete meine Adern und die Kette auf meiner Brust, begann warm zu werden. Fast schon heiß. Genährt durch meine Wut. Plötzlich ging mir ein Licht auf. Die Kette ernährte sich durch Emotionen. Gestern als ich traurig, verwirrt und nervlich am Ende war, hatte der Anhänger Kälte versprüht. Jetzt, da Wut in mir hochkochte, erhitze der Anhänger sich. Es war so einfach. Gefühle. Die Kette wurde durch meine Gefühle kontrolliert. Sie spürte, was ich fühlte. Merkte, was ich dachte. Blieb nur noch die Frage was das gestern mit den Schatten in meinem Zimmer gewesen war. Jetzt erst einmal musste ich zusehen, dass ich meine Wut zügelte, bevor Julien oder irgendjemand anderes etwas davon mitbekam. Also drehte ich mich um und lächelte die Dame an der Essensausgabe bezaubernd an. Sie zog eine Augenbraue in die Höhe und klatschte mit noch weniger Freundlichkeit als normalerweise, mir meine Portion Kartoffelpüree auf den Teller.
Kaum zu glauben, dass diese Frau noch lustloser sein konnte, als sonst. Ich schüttelte den Kopf. Hinter mir an der Kasse stand Julien natürlich auch wieder.
„Weißt du Minette? Ich glaube, dass du viel weniger vom Leben weißt, als du vorgibst. Und ich glaube, dass das Schicksal uns beide aus einem bestimmten Grund zusammengeführt hat. Ich weiß nur noch nicht warum."
„Ach ist ja wirklich sehr interessant, was du über mich zu wissen glaubst. Aber ich werde mich jetzt wieder mit wichtigen Dingen auseinandersetzten.", lächelte ich und wandte mich zum Gehen.
„Wir werden zu einander finden. Wirst schon sehen. Minette.", rief er mir nach.
Ich drehte mich um und zeigte ihm meinen Mittelfinger. Sein Lachen hallte durch die Pause.
An unserem Tisch angekommen, konnte ich nicht anders. Ich wusste, was Em hatte. „Em. Sei bitte ehrlich. Bist du wieder zu David gegangen?", fragte ich und offenbar hatte ich Recht - das hieß Julien hatte Recht - denn sie brach vor mir lauthals in Tränen aus. Einige Schüler drehten sich zu uns um und schickten uns den ein oder anderen missbilligen oder gehässigen Blick.
„Ja. Charly es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Aber an diesem Abend... Ich war so down... und dann war er plötzlich da und er war nett zu mir. So wie früher und dann ist es halt einfach passiert. Aber Charly es tut mir so leid.", heulte sie.
Ich stand auf, nahm sie in den Arm und tröstete sie. „Ist schon okay. Mach dir keinen Kopf. Ich gehe und rede mit ihm, okay? Heute nach dem Unterricht. Ich schwöre dir, wenn er dich auch nur noch einmal gegen deinen Willen anfasst, dann bring ich ihn um."
Irgendwo hinter mir hörte ich, wie jemand sich verschluckte. Ich drehte mich um und entdeckte Julien, wie er keuchend Luft holte. Er sah mich ebenfalls und prustete noch mehr drauf los. Also so schlecht sah ich doch nun wirklich nicht aus. Das einzige, wie ich mir seinen Anfall erklären konnte, war, dass er gehört hatte, wie ich mit Em geredet hatte und geschworen hatte David umzubringen, würde er sich ihr nochmals nähern. Aber das konnte er unmöglich über diese Entfernung gehört haben. Ich schüttelte den Kopf, als sämtliche Mädchen in der Umgebung schnell zu ihm gerannt kamen, um ihn mit Taschentüchern und Wasser zu versorgen. Wer war er denn bitte? Ich wandte mich angeekelt ab und nahm meine schluchzende Freundin in eine enge Umarmung. Juliens Blick brannte in meinem Rücken, aber das war mir so was voll von egal. Es gab wichtigeres zu tun. Ich musste mit dem gewalttätigen Freund meiner Goth-Freundin reden und ganz nebenbei Julien aus dem Weg gehen.
Das würde wohl noch ein ewiger Tag werden.

Schattenkette (PAUSIERT!)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt