Der Neue

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Kurz nachdem ich den Wald hinter mir gelassen hatte und an der Hauptstraße entlanglief, tauchten hinter mir ein paar Scheinwerfer auf. Geblendet drehte ich mich um. Ein dunkler Wagen fuhr dicht zu mir auf. "Charly! Da bist du ja!" Jo sprang aus der Fahrertür und kam zu mir. Erleichtert fielen wir uns in die Arme.
"Was ist passiert?", fragte er ganz besorgt und ich konnte nur mühsam die Tränen unterdrücken. "Ich bin wohl eingeschlafen.", versuchte ich zu erklären. Er roch nach Fürsorge, Jo und zuhause. Langsam beruhigte ich mich und ließ mich von Jo auf den Beifahrersitz drücken. Wenige Minuten später wurde es mollig warm im Auto und jetzt, nachdem der erste Schrecken überwunden war, wollte ich nur noch schlafen. Denn beim Schlafen musste man nicht nachdenken.
Viel zu schnell waren wir bei mir Zuhause angekommen. Jo hob mich hoch und trug mich ins Bett. Bevor ich einschlief hörte ich wie er draußen wild mit Jass diskutierte. Ich wollte nicht, dass die beiden stritten. Vor allem nicht wegen mir. Weiter kam ich nicht mehr, denn da fielen mir bereits meine Augen zu.

Obwohl Jass heute morgen der Meinung war, ich sollte erst einmal ausschlafen, hielt ich es nicht lange im Bett aus. Also quälte ich mich pünktlich um 6 aus dem warmen Bett und wollte unter die Dusche springen. Im Bad entledigte ich mich meiner Kleidung bis auf die Unterwäsche und begutachtete voller Ehrfurcht die Kette die tief auf meinem Dekolleté lag. Sie war noch immer wunderschön, aber sie machte mir nach dem Vorfall vor wenigen Stunden noch immer Angst. Langsam ließ ich meinen Blick weiter abwärts gleiten. An meiner Hüfte prangte ein hässlicher blau-gelber Fleck. Ebenso an meinem Ellenbogen und meinem linken Knie. Ich sah aus, als hätte jemand mich verprügelt. Müde wollte ich mir die Kette über den Kopf ziehen und in die Dusche klettern, aber weit gefehlt. In dem Moment als ich sie berührte und ziehen wollte, wurden meine Arme so schwer, dass ich sie keinen Millimeter mehr nach oben bewegen konnte. Irritiert ließ ich die Arme wieder sinken. Das ging problemlos. Ich versuchte es erneut. Wieder passierte dasselbe. Ich war nicht mehr Herr über meinen Körper und damit nicht in der Lage mir das Schmuckstück vom Körper zu lösen. Was sollte das? Offenbar wurde ich wahnsinnig! Ich fuhr mir mit einer Hand matt über das Gesicht und gab auf. "Okay du blödes Ding. Du hast gewonnen.", murmelte ich. Als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich das sage, durchzog mich sofort eine wunderbare Wärme und die Müdigkeit wich aus meinen Gliedern. Kritisch beäugte ich den leuchtenden Anhänger. "Was bist du?", fragte ich still. Natürlich erhielt ich keine Antwort. Aber ein Versuch war es wert. Mit Kette um den Hals, stieg ich in die Dusche und drehte das Wasser auf. Heute morgen duschte ich kalt und versuchte damit die Zeichen der letzten Nacht zu vernichten. Als ich nass allerdings wieder vor dem Spiegel stand, durfte ich feststellen, dass das nicht viel gebracht hatte. Nachdem ich mich angezogen hatte, ging ich in die Küche und traf dort auf Jass, Maxi und Chris. Jip, das war meine Familie. Sozusagen. Die Kette hielt ich, vor gierigen Blicken geschützt, unter meinem Pulli versteckt. Jo lebte nicht bei uns. Jass war so etwas wie eine große Schwester für uns. Sie lebte mit uns drei Chaoten hier und hatte für alles ein offenes Ohr. Maxi, war erst sechzehn und damit der Jüngste in der Runde. Er war ein sehr in sich gekehrter Mensch, der nur sehr selten sprach und damit der komplette Gegensatz zu Chris und mir. Chris war ebenfalls siebzehn und würde in wenigen Monaten zu seinem Auslandsjahr aufbrechen. Ich würde ihn vermissen, allerdings nicht das Chaos dass er überall verbreitete wo er entlanglief.
Als Jass mich sah, warf sie mir einen skeptischen Blick zu und murmelte etwas, dass Klang wie:" Du musst ja selber wissen was du tust." Die anderen beiden musterten mich neugierig. "Was?", fuhr ich die beiden an, bevor ich in mein Brötchen biss. Sofort zuckte Maxi zusammen und kritzelte weiter in seinem Heft herum. "Alta! Die letzte Nacht hat dich verändert.", meinte Chris und ließ seinen Blick über meinen Körper wandern. Seine blonden Haare standen in alle Richtungen ab und er trug noch seinen Schlafanzug. Es war ein Segen wenn man nicht mehr zur Schule musste. "Du hast keine Ahnung!", seufzte ich und griff nach meinem Rucksack. "Pass auf dich auf!", rief Jass als ich bevor ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss warf. Während ich gähnend die Treppen runterlief tönte aus meinem IPod "Whispers in the Dark" von Skillet. Leise sang ich den Text mit:
Unten angekommen lief ich fast Jo über den Haufen der gerade dabei war, bei mir zu klingeln
"Jo!"
"Charly!", riefen wir gleichzeitig!
"Was machst du?", fragte er mit einem verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht. "Wonach sieht's den aus?", stellte ich die Gegenfrage. Als er nicht antwortete, setzte ich noch hinterher: "Ich gehe zur Schule. Und du wirst mich nicht davon abhalten können." In meinen Worten schwang eine unterschwellige Drohung mit. Ergeben hielt er die Hände über den Kopf und ging zurück zu seinen Mercedes GLA mit dem er mich gestern nach Hause gefahren hatte. "Wenn du schon unbedingt willst, dann lass mich dich wenigstens fahren. Wir wissen beide, dass du den Bus jetzt nicht mehr schaffst." Er legte die Arme auf das Dach seines Autos und den Kopf auf die Arme. Es stimmte. Der Bus war seit ca. 3 Minuten weg. Genervt verdrehte ich die Augen und stieg ein. Jo's Lachen war nicht zu überhören.
Vor der Schultür ließ er mich raus und versprach, mich auch wieder abzuholen. Zügig verschwand ich im Schulgebäude. Leute drängelten sich aneinander, standen in Gruppen an ihren Schließfächern oder beeilten sich bereits, in ihre Klassenzimmer zu kommen. Ich ging ebenfalls zu meinem Spind und tauschte meine Schultasche gegen mein Mathezeug. Als ich meine Schranktüre wieder schloss, zuckte ich erschreckt zusammen.
"Hey Charly!", begrüßte meine beste Freundin mich.
"Hi Em.", erwiderte ich und begutachtete den Aufzug meiner besten Freundin. Ihre Beine steckten in einer durchlöcherten Netzstrumpfhose, an ihren Füßen trug sie ein paar Schwarze Doc Martens und ihr Oberteil bestand aus einem viel zu großen schwarzen Strickpulli. Warum wunderte ich mich eigentlich noch über ihren Stil. Sie war verrückt nach allem Schwarzen und Lederarmbändern.
"Du sieht's heute ja wieder richtig klasse aus.", meinte ich und umarmte sie.
"Danke und du siehst ziemlich scheiße aus."
Mir fiel die Kinnlade runter. Ja manchmal war Emilia etwas zuuuu direkt.
"Danke Em. Du bist ja heute wieder richtig großzügig mit deinen Komplimenten.", sagte ich trocken und zwang mich zu einem schiefen Lächeln.
"Ja, Sorry! Hab schon gehört was du heute Nacht so getrieben hast."
Sie zwinkerte verschwörerisch.
"Ich habe gar nichts -getrieben-!", verteidigte ich mich und steuerte mit ihr an meiner Seite auf's Klassenzimmer zu.
"Ja ja! Das sagst du jetzt..." Sie lächelte wissend. Ich ließ mich auf meinen Platz fallen und zog die Schultern hoch.
"Em... Was? Ich peil's nicht!", brabbelte ich verwirrt. In diesem Moment klingelte es, alle anderen begaben sich auf ihre Plätze und unser Mathelehrer betrat den Raum. Alle Gespräche verstummten, nur Em und ich, hier in der letzten Reihe, ließen uns davon nicht beeindrucken.
"Egal!", winkte sie ab "Hast du am Wochenende schon was vor? Da steigt so 'ne abgefahrene Party..." Weiter kam sie nicht mehr, da Herr Marten uns unterbrach:
"Miss Lievens so langsam fangen ihre Gespräche mit Miss Stone an mich zu nerven.", warnte er.
Em rollte die Augen. Mit Miss Lievens war Em gemeint. Mit Miss Stone allerdings ich. Und ich konnte mir keine weitere Mitteilung mehr erlauben.
"Wenn's Sie nicht interessiert, müssen Sie ja nicht unbedingt zuhören.", entgegnete Em und lächelte zuckersüß. Leider Gottes ging dieser Schuss nach hinten los.
"Okay Emilia. Wie wäre es denn, wenn Sie statt ihrer Banknachbarin, mir zuhören würden? Und damit Ihnen dass besser gelingt, dürfen Sie sich hier nach vorne zu mir setzten."
Ich stöhnte. Em fluchte, nahm ihre Sachen und setzte sich in die erste Reihe. Herr Marten hatte ein selbstgefälliges Lachen auf den Lippen, als er sich zur Tafel umdrehte. Allerdings öffnete sich in diesem Moment die Tür zum Klassenzimmer und ein junger Mann trat ein. Ich sog scharf die Luft ein. Ein verdammt attraktiver junger Mann.
"Ahhh. Sie müssen Mister DuCraine sein."
Der Neue nickte.
"Na gut! Dann setzen Sie sich und fühlen Sie sich herzlich Willkommen, Julien."
Der Neue nickte erneut und kam auf mich zu. Es gab nur noch einen freien Platz in der Klasse. Und der war neben mir.

Schattenkette (PAUSIERT!)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt