Sophie zeigte ihm sein neues Zimmer – ein düsteres, muffiges Kabuff, wo kaum ein Möbelstück zum anderen passte – und erklärte ihm ruhig die Regeln im Hause Humphrey.
Im Grunde war es ebenso einfach wie ernüchternd: Früh aufstehen, alle möglichen Arbeiten erledigen, Theresa und Zachary nie stören und nicht reizen. Die Leidenschaft der beiden bestand aus fernsehen und trinken. Theresa hatte zusätzlich ein Faible für Knabberzeugs aller Art. Saubere Kleidung gehörte bei den Humphreys nicht zu den Prioritäten, außer Sonntags, wenn sie zur Kirche gingen. Obwohl Sophie erst elf Jahre alt war, führte sie alle Tätigkeiten im Haushalt bereits wie ein Profi aus. Sie war immer still und ernst. Von ihr kam weder ein böses Wort, noch lachte sie jemals. Sie war seit fünf Jahren in dieser Pflegefamilie. Caleb war einerseits froh, aus dem Heim entkommen zu sein, doch das hier war kaum besser. In den ersten Tagen half er Sophie bei der Hausarbeit so gut er konnte, aber das änderte sich, als ihm beim Tisch abräumen ein paar Teller herunterfielen.
Zachary gab ihm eine kräftige Ohrfeige und brüllte: »Zu dumm zum Geschirr wegräumen! Du Missgeburt kostest uns mehr, als du bringst! Scher dich raus und kehr den Hof, da kannst du wenigstens nichts kaputtmachen!«
Er zerrte ihn am Arm nach draußen und knallte die Tür hinter ihm zu. Verloren machte sich Caleb auf die Suche nach einem Besen. Seitdem war die Arbeit aufgeteilt: Sophie kümmerte sich um alles im Haus, Caleb um alles außerhalb. Als für ihn die Schule begann, bläute ihm Zachary unmissverständlich ein, dass er deswegen seine Pflichten nicht vernachlässigen dürfe und gefälligst früher aufzustehen hatte, bevor er sich »in der Penne erholen« könne. Sophie weckte ihn also mitten in der Nacht, ermahnte ihn, leise zu sein, um die Humphreys nicht zu wecken, und mit seiner Arbeit zu beginnen. Obwohl er mit Sophie gut auskam, blieb sie immer distanziert. Von ihr erfuhr er dann auch mehr über seine Pflegeeltern. Als Zacharys Vater gestorben war, hatte er ihm die Farm überlassen. Damals war das Haus gepflegt und das dazugehörige Land größer gewesen. Doch Zachary hatte es erst heruntergewirtschaftet und danach kein gesteigertes Interesse an harter Arbeit gezeigt, also begann er, seine Felder Stück für Stück zu verkaufen. Als außer dem Haus und dem dazugehörigen Grundstück nichts mehr übrig war, begannen sie nach neuen Geldquellen Ausschau zu halten und kamen irgendwann auf die Idee, Pflegekinder aufzunehmen. Wie auch immer sie es geschafft hatten, sie wurden als Pflegeeltern akzeptiert. Sophie wurde ihr erstes Kind. Bald darauf erkannten sie, dass sie sich das Leben einfacher machen konnten, indem sie die Hausarbeit auf die kleine Sophie verlagerten. Putzen und Staubwischen überließen sie ihr. Im Laufe der Zeit kamen dann immer mehr Tätigkeiten dazu. Da Sophie reinlich war und nicht wie die Humphreys herumlaufen wollte, übernahm sie bald freiwillig die Wäsche. Neue Kleidung kannte sie nicht. Von Zeit zu Zeit zog Zachary los und kehrte mit einem Sack alter Klamotten zurück, wo auch Sophie sich daraus bedienen durfte. Zu Beginn seines Aufenthalts wehrte sich Caleb gegen die Humphreys, aber nachdem er ein paar Mal verprügelt wurde und einige Tage nichts zu essen erhielt, musste er klein beigeben. Er spekulierte auf den nächsten Kontrollbesuch des Mannes von der Fürsorge, doch er wurde bitter enttäuscht. Der Kerl hörte ihm kaum zu, nannte ihn undankbar und einen Lügner. Theresa tat schockiert und quetschte sich ein paar Tränchen heraus. Sophie schwieg und sagte nichts. Als der Mann wieder gegangen war, verabreichte ihm Zachary eine Tracht Prügel und sperrte ihn über Nacht in den zugigen Schuppen, in dem das Werkzeug aufbewahrt wurde. Am nächsten Tag stellte Caleb Sophie zur Rede:
»Warum hast du mir nicht geholfen? Wir hätten hier wegkommen können!«
»Wohin? Niemand interessiert sich für uns. Also besser nicht auffallen, dann gibt's wenigstens keine Schläge.«
Damit ließ sie ihn stehen. Obwohl er sie ein bisschen verstehen konnte, hatte er ihr diesen Verrat nie ganz verziehen.
Vor etwas über zwei Jahren verlangte Theresa zu einem unerwarteten Zeitpunkt, dass das Haus auf Vordermann gebracht werden sollte. Caleb wunderte sich, denn üblicherweise war großer Hausputz immer nur kurz vor den Kontrollbesuchen angesagt und der nächste wäre erst für zwei Wochen später geplant gewesen. Theresa scheuchte sie an die Arbeit und versank wieder vor ihren geliebten Spielshows. Zwei Tage später war Zachary frisch rasiert und hatte seinen schwarzen Anzug an. Theresa trug einen Rock und eine Bluse, die Caleb noch nie an ihr gesehen hatte. Am Nachmittag fuhr der Mann von der Fürsorge vor und war nicht alleine. Bei ihm war ein schwarzer Junge, vielleicht zehn Jahre alt, der eingeschüchtert im Wohnzimmer stand und sich aufmerksam umschaute.
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Wolfswandler II: Blutwandler
FantasyCaleb hat kein einfaches Leben. Nach einem Unglück kommt er zwar bei einer liebevollen Familie unter, doch wird von seinem Pflegebruder getrennt. Beim Versuch ihn zu retten, schließt er tödliche Bekanntschaft mit einem Vampir. Als er wieder erwacht...