Sollte er zu ihr gehen? War das eine Finte? Doch es war zu spät für taktische Überlegungen. Anne bog um die Ecke und schaute ihn an.
»Na, komm schon!«
Er ließ den Kopf hängen und trottete Anne hinterher zum gedeckten Tisch.
»Die vierte Diele im Flur knarrt. Ich habe dich gehört«, sagte sie mit einem Schmunzeln und forderte ihn auf, sich wieder hinzusetzen.
Caleb erwartete Beschimpfungen oder Bestrafungen, doch Anne schaute ihn mitfühlend an und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Hätte ich auch gemacht an deiner Stelle. Nachdem, was du erlebt hast. Herumgeschoben und dann zu fremden Leuten gebracht zu werden, ist nicht einfach. Es ist normal, dass man da neugierig ist. Und jetzt iss erstmal was.«
So ganz traute Caleb der Sache immer noch nicht, aber griff nach einem Brötchen und schnitt es auf. Anne ließ ihn machen und las die Unterlagen, die sie von Mr. Gardner erhalten hatte.
»Du hast ja einiges hinter dir«, sagte sie nach einer Weile kopfschüttelnd.
»Ja«, antwortete Caleb, um auch etwas zum Gespräch beizutragen.
»Möchtest du noch einen Kaffee?«
»Nein.«
»Ich verstehe, dass du schüchtern bist, schließlich kennen wir uns nicht. Dagegen werden wir sofort was unternehmen! Also, ich bin Anne, 36 Jahre, hauptberuflich Hausfrau und damit beschäftigt, das Geld meines Mannes unter die Leute zu bringen.«
Sie grinste.
»Behauptet er jedenfalls immer. Mein Mann heißt Nick Parker, eigentlich Nicholas, aber nenn ihn bloß nicht so. Er sagt, das klingt nach Nikolaus und er wäre kein Weihnachtsmann. Den lernst du erst heute Abend kennen. Er arbeitet als Manager in einer Versicherung, ist dort furchtbar wichtig und hält alleine den Laden am Laufen. Behauptet er jedenfalls. So, was ist denn noch interessant? Ach ja, dein neues Zimmer gehörte früher unserem anderen Pflegesohn Eric, der ist vor einem halben Jahr ausgezogen.«
Caleb nickte verständig.
»Ja, klar. Da wurde er volljährig und ihr habt kein Geld mehr von der Fürsorge bekommen, da habt ihr ihn rausgeschmissen. So wollten es die Humphreys mit mir auch machen.«
Anne schaute ihn überrascht an.
»Was? Quatsch. Er geht jetzt studieren und ist deswegen ausgezogen. Wir schicken ihm auch noch jeden Monat Geld, obwohl die Fürsorge schon lange nichts mehr zahlt.«
»Das ist ... nett von Ihnen.«
»Du. ›Das ist nett von dir‹. Die Humphreys waren wohl nicht so nette Leute?«
»Kann man nicht sagen.«
»Willst du darüber reden?«
Caleb begann von den Humphreys zu erzählen. Erst einzelne Erlebnisse, dann immer mehr. Er sprang in der Zeit hin und her. Er wusste nicht, warum, doch er hatte das Gefühl, Anne vertrauen zu können. Oder es war einfach an der Zeit, dass er jemandem alles erzählen musste. Wie nach einem Dammbruch floss es aus ihm heraus. Und Anne hörte interessiert zu. Ihr Gesichtsausdruck war zunächst rein verständnisvoll, doch je mehr er erzählte, desto mehr Stimmungen konnte Caleb ablesen. Schrecken, Bedauern und gegen Ende Wut und Empörung. Schließlich kam er auf seine erzwungene Trennung von Aaron zu sprechen und das Gespräch mit Mr. Gardner.
»Du würdest Aaron homosexuell machen? Und er wäre besser bei einer Familie seiner Rasse aufgehoben? So ein Arschloch! Wenn ich das vorhin schon gewusst hätte, hätte ich ihn mit einem Tritt in den Hintern rausgeworfen! Und so ein Rassist ist Psychologe in einem Waisenhaus? Unglaublich! Genau so fehl am Platz wie diese beiden anderen Typen von der Fürsorge!«
DU LIEST GERADE
Wolfswandler II: Blutwandler
FantasyCaleb hat kein einfaches Leben. Nach einem Unglück kommt er zwar bei einer liebevollen Familie unter, doch wird von seinem Pflegebruder getrennt. Beim Versuch ihn zu retten, schließt er tödliche Bekanntschaft mit einem Vampir. Als er wieder erwacht...