Kapitel 1

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»Beweg' deinen faulen Arsch schneller, du Missgeburt!«

»Ja, Zachary.«

Seufzend trug Caleb das Holz, das er gerade gehackt hatte, zu dem Stapel Scheite, die bereits an der Hauswand aufgeschichtet waren. Sein Pflegevater ging zu dem alten Baum neben dem heruntergekommenen Farmhaus zum Pinkeln. Er putzte sich die Hände an seinem ehemals weißen Unterhemd ab und setzte sich in den Stuhl auf der Veranda, den Caleb beim Sperrmüll gefunden hatte und über zwei Meilen nach Hause geschleppt hatte. Eigentlich wollte er ihn in das Zimmer stellen, das er sich mit Aaron teilte, da sie dort nur einen windschiefen Hocker hatten, auf dem einem nach kurzer Zeit Rücken und Hintern weh taten. Doch Zachary hatte ihn erwischt und beschlossen, dass er einen gemütlichen Sitzplatz auf der Veranda brauchte. Seither stand er dort, damit Zachary ihre Arbeiten beaufsichtigen und sich in Ruhe besaufen konnte. Zachary steckte sich eine Zigarette an und zog aus seiner Hosentasche eine Dose Bier. Caleb wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaffte die nächste Ladung Holz heran.

»Los, Tempo!«, kommandierte Zachary und trank einen Schluck Bier, »Das ist hier nicht wie in der Schule, wo du dir den Arsch plattsitzen kannst!«

Caleb sagte nichts dazu. Widerworte würden Zachary nur provozieren und er wurde unberechenbar, wenn er betrunken und wütend war. Seine Pflegeeltern hätten ihn am liebsten von der Schule genommen, doch dann würden sie für ihn weniger Geld von der Fürsorge bekommen. Sie hatten ihm aber deutlich gemacht, sobald er in einem halben Jahr seinen Abschluss machte, sollte er sich eine Arbeit suchen und seinen Lohn zuhause abliefern, damit sie mehr Kohle zur Verfügung hätten. Mit achtzehn würden sie ihn rausschmeißen, da das Geld von der Fürsorge ausbleiben würde, weil er dann volljährig war. Trübe Zukunftsaussichten, aber immerhin war es bis dahin noch über ein Jahr und Caleb hoffte, dass ihm in der Zwischenzeit eine Lösung einfiel.

Zachary schnippte seinen Zigarettenstummel in den Hof und verschwand wieder nach drinnen.

Ein gezischtes »Psst! Caleb!« lenkte ihn vom Holzstapeln ab. Aaron lugte um die Ecke.

»Die Luft ist rein, du kannst herkommen.«

Grinsend kam Aaron näher.

»Soll ich dir helfen?«

»Bist du denn fertig im Garten? Sonst gibt es wieder Ärger.«

»Ja, Theresa hat eben die kleine Emily geholt, damit sie Sophie beim Abendessen kochen hilft.«

Emily war acht und vor einem Jahr zu den Humphreys in Pflege gekommen. Caleb vermutete, dass sie als Nachfolgerin für ihn gedacht war, da er in absehbarer Zeit für Zachary und Theresa nicht mehr von Nutzen sein würde. Sie war ein freundliches, aber schüchternes Mädchen, ganz besonders im Umgang mit Männern. Sie schaute Zachary immer ängstlich mit aufgerissenen Augen an, wenn er ihr irgendetwas befahl. Auch mit Caleb und Aaron hatte sie ihre Probleme und fühlte sich nicht wohl mit den beiden. Aaron schien sie noch eher zu akzeptieren, wahrscheinlich weil sie ihn mit seinen dreizehn Jahren noch nicht richtig als Mann ansah. Caleb hatte immer freundlich mit ihr geredet und versucht, ihr Misstrauen zu überwinden, aber es funktionierte einfach nicht. Er hatte beschlossen, ihr die Zeit zu geben, die sie brauchte. Sie sprach nie von früher oder warum sie in eine Pflegefamilie gekommen war, Caleb vermutete, dass sie schlimme Erfahrungen gemacht haben musste.

Er selbst war von seinen Eltern nie schlecht behandelt worden, sie waren einfach eines Tages weg. Er war zehn, als er eines Nachmittags nach Hause kam und niemand da war. Das war nicht so ungewöhnlich, das Auto fehlte und Caleb vermutete, dass sie Einkaufen gefahren waren. Doch auch als es Nacht wurde, kamen sie nicht zurück. Am nächsten Tag ebenfalls nicht. Caleb tat, was er immer tat, ging zur Schule, machte Hausaufgaben und versuchte, alles in Schuss zu halten. Doch nach ein paar Tagen ging ihm das Essen aus und seine Kleidung wurde knapp. In der Schule sahen ihn die anderen schon etwas schräg an, weil sein Bauch öfter knurrte und seine Klamotten nicht mehr die frischesten waren. Schließlich hielt er es nicht länger aus und klingelte bei ihrer Nachbarin, Mrs. Spinoza.

Wolfswandler II: BlutwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt