Kapitel 12

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In den nächsten Nächten lernte Caleb die neuen Fähigkeiten seines veränderten Körpers besser kennen. Nachdem er viele Male in dem relativ engen Keller geübt hatte, bekam er das mit der Geschwindigkeit in den Griff. Die schnelle Art der Fortbewegung schien die natürliche zu sein, denn wenn er sich nicht darauf konzentrierte oder spontan losrannte, war er immer in diesem fast forward-Modus. Nach einigen Versuchen – und mehreren unsanften Landungen an Steinmauern, weil er nicht rechtzeitig abbremste – klappte das recht gut. Er konnte erstaunliche Entfernungen in Fast Forward zurücklegen. Ein weiterer Trip zum Bahnhof war eine Sache von Sekunden. Auch seine geschärften Sinne waren verblüffend. Er hatte seine Sehkraft getestet, indem er versucht hatte, die Schlagzeilen einer Tageszeitung zu lesen, die an dem Zeitungskiosk ausgehängt war. Solange er den Kiosk sehen konnte und die Augen darauf einstellte, konnte er auch den Titel lesen. Atmen war kein Muss mehr für ihn, sondern eher Gewohnheit. Wenn er allerdings atmete, nahm er feinste Geruchspartikel wahr. Sogar vom Bahnhofsvorplatz aus konnte er die Geruchsmelange der Toilettenanlagen im Inneren des Gebäudes wahrnehmen, wenn er sich konzentrierte, aber darauf verzichtete er nach zwei Versuchen ganz schnell. Nicht atmen zu müssen hatte definitiv Vorteile. Am schwierigsten fand er es, sein Gehör unter Kontrolle zu bringen. Er hörte jedes Geräusch, Herzschläge, knisterndes Bonbonpapier, alle belanglosen Gespräche, die im Bahnhof geführt wurden und diese Kakophonie war kaum zu ertragen. Allmählich verstand er, warum Dracula in den Filmen einsame Burgen und Schlösser mitten im Nirgendwo bevorzugt hatte. Es dauerte eine ganze Weile, sich daran zu gewöhnen und es als Hintergrundrauschen nicht mehr zu beachten. Auch war er viel stärker als vorher, worunter einige Möbel und Schränke, die er im Keller vorgefunden hatte, leiden mussten. Mühelos hatte er sie in Kleinholz verwandelt. So weit, so gut. Nur die Geschichte mit dem Blut aussaugen und Menschen umbringen, behagte ihm nicht. Er hatte seit dem Betrunkenen kein Blut mehr getrunken, das war vier Nächte her und allmählich kam der Hunger zurück. Erst leise, aber Caleb ahnte schon, dass er stärker werden würde. Doch er schob die Lösung dieses Problems vor sich her. Nach dem Training der letzten Nächte war er der Meinung, seinen Körper nun soweit zu beherrschen, dass er die nächsten Schritte angehen konnte. Was dann zu der spannenden Frage führte, was diese Schritte denn wären. Er kauerte in seiner Schlafkammer und ging seine Optionen durch.

Ich muss hier weg. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich auffalle. Außerdem fängt der Betrunkene an zu stinken. Aber wohin soll ich gehen?

Zweiter Punkt, Aaron. Jetzt sollte es kein Problem mehr sein, einzubrechen und die Informationen über seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Ihn zu befreien, ist sicher auch kein Ding. Aber was dann?

Er konnte Aaron sein neues Leben nicht zumuten. Und ihn einfach mitzunehmen und bei den Parkers abzuliefern, wäre keine Option. Die Behörden würden ihn wieder mitnehmen. Dieses Dilemma ließ ihn nicht mehr los. Außerdem vermutete er, dass Anne und Nick seinen Wunsch, ihn nicht zu suchen, nicht respektiert hatten. Wie er Anne in der kurzen Zeit kennengelernt hatte, würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Auch dazu fiel ihm keine schnelle Lösung ein. Er beschloss, wenigstens das erste Problem anzugehen und sich einen neuen Unterschlupf zu suchen. In Fast Forward suchte er die nähere Umgebung ab, dann zog er weitere Kreise. Doch er hatte kein Glück. Dazu kam allmählich die schon bekannte Müdigkeit, die für ihn den Sonnenaufgang ankündigte, und er machte sich unzufrieden auf den Rückweg. Es war dunkel und am frühen Morgen, als er die Stadt wieder erreichte. Er passierte eine menschenleere Straße, alle Einwohner schliefen noch – bis auf eine. Aus der Tür eines großen Mehrfamilienhauses kam eine junge Frau heraus. Sie zurrte die Jacke fester um sich und machte sich auf zu ihrem Ziel, wo immer das sein mochte um diese Uhrzeit. Caleb blieb stehen und verbarg sich in einem Hauseingang. Niemand sonst war zu sehen, nur diese Frau war unterwegs. Der Hunger meldete sich schlagartig. Unbewusst leckte er sich über die Lippen, als er seiner Nahrungsquelle hinterherschaute. Ideal! Sie war alleine, niemand würde etwas mitbekommen. Er bemerkte kaum, dass seine Fangzähne ausfuhren, zu sehr war er auf seine Beute fixiert.

Wolfswandler II: BlutwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt