Kapitel 35

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Wenige Minuten später näherte sich ein ganzer Pulk. Neben Sorin waren Marcus mit Theron, Lucien und zwei Leibgardisten dabei. Theron war der Erste, der auf den Geruch reagierte. Er stellte sein Nackenfell auf und knurrte bedrohlich. Marcus schaute in den Kofferraum und stieß wieder lateinische Flüche aus. Lucien drehte sich nach einem kurzen Blick von den anderen weg und begann am Telefon heftig auf jemanden einzureden. Die beiden Leibgardisten, die man vorher wohl nicht eingeweiht hatte, waren geschockt, als sie die beiden Wächter erkannten, die offensichtlich zu ihren Freunden gehört hatten. Nur Sorin sagte kein Wort. Mit finsterem Blick und zusammengebissenen Zähnen betrachtete er die Szenerie und ging um sein Auto herum. Natürlich blieb diese Versammlung nicht unbemerkt. Menschen und Vampire kamen zur Nachtschicht, andere verließen gerade das Gebäude. Marcus schnauzte einige von ihnen an, dass sie weitergehen sollten, doch das animierte andere dazu, noch neugieriger zu werden.

»Herr, zwei unserer Ärzte von Hämoplus kommen so schnell wie möglich mit zwei Fahrzeugen hierher und transportieren die Leichen zur Untersuchung«, sagte Lucien.

Marcus nickte abwesend, dann straffte er sich.

»Gut. Ihr beiden ...«, er deutete auf die Leibgardisten, »schließt den Kofferraum und bewacht den Wagen bis die Ärzte da sind. Helft ihnen beim Umladen der Leichen, wenn nötig. Kein Wort, was ihr hier gesehen habt, ist das klar?«

Die beiden nickten und schlugen zur Bekräftigung mit der rechten Faust auf die Brust. Markus drehte sich um und ging wieder Richtung Gebäude.

»Ihr anderen, folgt mir.«

Caleb und Derek legten die Automappen auf dem Tresen ab und der Wächter am Empfang fragte flüsternd: »Derek, was ist denn da los?«

In einem Sekundenbruchteil stand Marcus vor ihm, der sich in Fast Forward herbewegt hatte.

»Nichts, was dich etwas angeht. Kümmere dich um deine Arbeit! Und ihr beiden: Beeilung!«

Der Wächter stotterte ein »Natürlich, Herr«, doch Marcus achtete nicht darauf und drängte Caleb und Derek in den Aufzug.

Kurz darauf saßen sie alle wieder bei Marcus. Man sah ihm an, dass es in ihm brodelte. Schließlich wagte sich Sorin aus der Deckung und sagte vorsichtig: »Wir müssen etwas tun.«

»Messerscharf analysiert wie immer, mein Stellvertreter. Und was? Was wissen wir denn?«

»Wir haben zwei tote Wächter, die von Werwölfen umgebracht wurden, und eine gestohlene Urne«, fasste Lucien gewohnt nüchtern zusammen.

»Und auffällige Störungen bei unseren Geschäften. Das sieht nach jemandem aus, der Insiderkenntnisse hat«, ergänzte Sorin.

»Das hatten wir schon diskutiert, Sorin. Aber es trägt wohl kaum zur allgemeinen Beruhigung bei, wenn ich verkünde, dass wir einen Verräter in unseren Reihen haben!«

»Aber vielleicht setzt das den Verräter unter Zugzwang und lässt ihn unvorsichtig werden!«

Caleb hatte die Argumente verfolgt. Sie klangen logisch, aber fühlten sich für ihn falsch an.

»Vielleicht ist das schon so ...«, murmelte er vor sich hin.

»Was meinst du damit?«, fragte Marcus sofort nach.

Caleb fühlte sich unwohl, als ihn alle anschauten. Der Gedanke war ihm eher unbewusst herausgerutscht.

»Es war nur so eine Idee, ich ...«

»Caleb«, unterbrach ihn Sorin, »Erspar uns deine Selbstzweifel und sag, was du zu sagen hast. Wir alle können hier im Moment nur spekulieren. Also?«

»Na ja, ich meine, diese ganzen Vorfälle sehen einerseits sorgfältig geplant aus, da hat sich jemand länger Gedanken gemacht. Aber andererseits kommt es mir vor, als ob manches hektisch und sogar schlampig umgesetzt wurde. Das passt nicht zusammen. Nehmt den Diebstahl der Urne. Wie Jamaal es erklärt hat, war es ziemlich aufwändig, die Überwachungskameras auszutricksen, aber dann hat man die Urne selbst durch eine billige Kopie ersetzt, die sofort als Fälschung auffällt. Also frage ich mich, warum? Vielleicht ist der Verräter schon unter Zugzwang?«

Eigentlich erwartete Caleb, dass alle seine Gedanken lächerlich fanden, vielleicht würde Derek ihm beistehen, obwohl der schon wieder Marcus anschmachtete. Daher war er überrascht, als er Zustimmung von gänzlich unerwarteter Seite erhielt.

»Er hat recht. Und ich denke, es ist nicht nur ein Verräter. Um den Stein vor dem Eingang der Schatzkammer zu bewegen, braucht es einige Vampire«, sagte ausgerechnet Lucien. Caleb hatte bisher eher gedacht, dass der Hulk nicht viel von ihm hielt, aber das war wohl falsch.

»Da könnte was dran sein«, sagte Sorin nachdenklich. »Mir ist auch noch etwas aufgefallen. Ich habe den Kilometerstand meines Wagens mit dem Fahrtenbuch abgeglichen. Sie stimmen nicht überein. Irgendjemand ist damit sechzig Meilen gefahren. Wieso hat man ausgerechnet mein Auto dafür benutzt? Es fällt auf, alle hier im Haus kennen es, das Risiko, damit gesehen zu werden, ist groß. Warum also?«

»Mal ganz praktisch gedacht: Vielleicht hatte das Werwolfweibchen, das du damals angeschleppt hast, ja noch einen Zweitschlüssel?«, warf Derek ein.

»Aber wie passt das wieder zur ausgetauschten Urne?«, fragte Sorin.

»Hm, ihr habt recht. Hier ist manches nicht so, wie es aussieht«, stimmte Marcus zu.

Ermutigt durch die Reaktion auf seine letzte Idee fragte Caleb: »Ist es denn sicher, dass die beiden Wächter durch Werwölfe starben?«

»Definitiv. Sie sind nicht zu Asche zerfallen«, sagte Marcus.

»Ich verstehe nicht?«

»Was Marcus meint, ist Folgendes: Verletzungen durch Werwölfe verlangsamen die natürlichen Abläufe unserer Körper. Wenn ich dich mit einem Messer schneide, heilt das in ein paar Minuten. Wenn ein Werwolf dich kratzt, dauert das Tage. Die beiden sind letzten Endes verblutet, weil sie nicht schnell genug heilen konnten. Mit dem Tod ist es das Gleiche. Wenn ein Vampir stirbt, dann wird er normal rasend schnell zu Asche, du hast es bei Abel gesehen. Aber auch das ist bei Werwolfverletzungen stark verlangsamt. Sie werden zu Asche, aber das kann Tage dauern«, erklärte Sorin.

»Oh, ok.«

Derek schaute Caleb gedankenverloren an.

»Ich wundere mich nur, dass ...«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Lucien öffnete. Einer der beiden Leibgardisten, die auf die Ärzte warten sollten, salutierte vor ihm.

»Die beiden Leichen wurden abtransportiert. Der Arzt hat mir diesen Brief für Marcus gegeben. Sollen wir weiter den Wagen bewachen?«

»Nein, das ist nicht notwendig. Ihr könnt gehen.«

Lucien nahm den Brief, schloss die Tür und übergab das Schriftstück. Marcus öffnete es und begann zu lesen.

»Sie haben die beiden Leichen oberflächlich untersucht. Schicken später einen ausführlichen Bericht ... blablabla ... zwei ungeklärte Verbrennungsmale im Brust- und Bauchbereich ... Verletzungen stammen vermutlich nur von einem Werwolf. Wie zum Teufel schafft es ein Werwolf, so kurz hintereinander zwei Wächter auszuschalten? Er muss auf jeden Fall auch verletzt sein!«

»Das glaube ich nicht, Herr«, widersprach Derek. »Das wollte ich vorhin gerade sagen, sie haben sich nicht gewehrt.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ihre Fingernägel waren sauber. Bei einem Kampf hätten sie eigentlich Blut oder Haut unter den Nägeln haben müssen, aber da war nichts.«

»Das passt doch alles hinten und vorne nicht zusammen!«, fluchte Marcus.

Sorins Handy klingelte. Er warf einen kurzen Blick aufs Display und ging ran.

»Ja? Was gibt's? Wir sind gerade bei Marcus, also wenn es nicht ... oh! Schieß los! ... Hm ... Was? ... Ok, danke.«

Er steckte das Handy weg und sah Marcus mit einem seltsamen Blick an.

»Das war Jamaal. Er hat herausgefunden, von welchem Rechner das falsche Videobild stammte. Es war Calebs.«

Wolfswandler II: BlutwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt