Kapitel 8

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Abends im Bett dachte Caleb über den Tag nach. Die Parkers hatten heute mehr für ihn getan, als die Humphreys in fünf Jahren. Sie wollten ihm helfen, Aaron wiederzubekommen, und schienen ihn zu akzeptieren, wie er war. Und obwohl Vorsicht und die Angst, enttäuscht zu werden, ihn zur Zurückhaltung mahnten, keimte Zuversicht in ihm auf. Er fragte sich, ob ihn der nächste Tag näher zu Aaron bringen würde, und schlief ein.

Bereits beim Frühstück ließ Anne ihn seine Geschichte nochmals erzählen und machte sich fleißig Notizen dabei. Dann setzte sie sich an ihren Laptop und begann, alle Punkte in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen und auszuformulieren. Caleb saß erst etwas verloren daneben, bis Anne zu ihm sagte: »Du machst mich nervös. Du musst hier nicht rumsitzen, unternimm doch irgendwas.«

Caleb war unentschlossen. Zeiten, in denen er das tun konnte, was er wollte, waren auf der Farm eher selten gewesen. Außerdem hatte er da gewusst, wo er hätte hingehen können. Das brachte ihn auf eine Idee. Er würde sich seine neue Umgebung näher betrachten. Er sagte Anne kurz Bescheid und ging nach draußen. Aufs Geratewohl lief er rechts die Straße entlang und schaute sich um. Ein Einfamilienhaus stand neben dem anderen, unterschiedliche Bauweisen, aber alle sauber und gepflegt. Die Plätze vor den Gebäuden wurden je nach Geschmack und Pflegeaufwand genutzt. Viele hatten Vorgärten, andere Rasen oder schlicht eine betonierte Fläche, bei einem Haus entdeckte Caleb einen Steingarten mit einer Buddhastatue und asiatischen Elementen. Er hatte so etwas noch nie gesehen, doch es gefiel ihm. Alles in allem ein typischer Vorort, idyllisch und langweilig. Viel los war nicht. In einer geöffneten Garage saßen drei Männer, die bei einem Bier über Football fachsimpelten, irgendwo unterhielten sich zwei Frauen an der Hecke ihrer Grundstücksgrenze. Das ganze Viertel lag träge in der Mittagssonne. Ein paar Häuser weiter sah Caleb einen schwarzen Jungen, der konzentriert immer wieder einen Ball gegen die Hauswand warf und ihn auffing. Der Kleine erinnerte ihn an Aaron und er blieb gedankenversunken einen Augenblick stehen. In dem Moment donnerte der Junge, den Caleb auf acht Jahre schätzte, seinen Ball ungestüm an die Wand. Der Ball prallte im hohen Bogen ab und traf Caleb. Er hob ihn auf und drehte sich zu dem Jungen um, der ihn so sehr an Aaron an seinem ersten Tag bei den Humphreys erinnerte. Der hatte die Augen aufgerissen und starrte ihn mit offenem Mund an. Vorsichtig kam er näher und blieb vor Caleb stehen.

»Tschuldigung«, murmelte er schüchtern und schaute ihn von unten herauf an. Die Fußspitze drehte er verlegen auf dem Boden hin und her. »Gibst du ihn mir wieder?«

»Klar. Hier, fang!«

Strahlend fing der Kleine den Ball und stob davon.

Caleb lächelte.

Einfach knuffig, das Viech!

Langsam machte er sich wieder auf den Rückweg.

Anne saß immer noch konzentriert vor ihrem Laptop und tippte. Caleb wollte nicht stören und ging in sein Zimmer. Er beschloss, sich einmal das Bücherregal näher anzusehen. Er blätterte einige Bücher über Modellbau durch, aber das Thema interessierte ihn nicht und er stellte sie wieder zurück. Er griff sich wahllos Fantasybücher heraus und las die Inhaltsangaben auf den Rückseiten. Geschichten über Hobbits, Hexen und Zauberer, Vampire, Werwölfe und andere merkwürdige Wesen. Er hatte sich früher manchmal auch in fremde Welten geträumt, aber die waren immer schön und friedlich gewesen. Monster hatte er im wahren Leben genug. Trotzdem weckte das Thema eher sein Interesse als der Modellbau. Er stellte alles zurück und nahm sich vor, in einem davon zu lesen, bevor er sich schlafen legte.

In einem der oberen Regale stand ein gerahmtes Foto, das er bisher nicht beachtet hatte. Es zeigte einen jungen Mann mit schwarzen Haaren, der einen Talar und einen viereckigen Hut mit Quaste trug und voller Stolz breit in die Kamera grinste.

Wolfswandler II: BlutwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt