Kapitel 9

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Doch das war leichter gesagt als getan. Von Tag zu Tag hatte Caleb immer mehr das Gefühl, auf glühenden Kohlen zu sitzen. Nick und Anne gaben ihr Bestes, um ihn abzulenken und ihm zu versichern, dass alles gutgehen würde, doch die Ungewissheit nagte an ihm. Nick weihte ihn an einem Abend in die Geheimnisse der Playstation ein und machte ihn gnadenlos bei einem Fußballspiel nieder. Anne schleppte ihn mit zum Einkaufen, erstand einen Rucksack für ihn, mit dem er in die Schule gehen sollte und allerlei Kleinkram. Zu Calebs Verdruss schleifte sie ihn ohne Vorwarnung vor ein Regal voller Kondome und fragte ihn ganz ungeniert, welche Größe und welches Modell er bevorzugen würde.

»Extrafeucht, sensitiv, mit Noppen oder mit Geschmack?«, erkundigte sie sich sachlich.

Mit hochrotem Kopf flüchtete Caleb in die Putzmittelabteilung. An der Kasse informierte sie ihn strahlend darüber, dass sie eine Packung mit einem Sortiment verschiedener Kondome genommen hätte, die er ja in Ruhe testen könne, um das Beste für sich herauszufinden. Als die junge Kassiererin ihm grinsend zuzwinkerte, war es mit seiner Beherrschung vorbei und er stürmte aus dem Laden.

Zurück zuhause hatte sie eine weitere Überraschung für ihn.

»Mir ist da was eingefallen. Komm mit.«

Sie führte ihn in die Garage, die neben ihrem eigentlichen Zweck auch als Lagerraum für Getränke und Abstellkammer diente. An der Wand stand ein Etwas unter einer alten Decke. Sie zog sie vorsichtig weg und enthüllte ein Fahrrad.

»Das war Erics Drahtesel. Na ja, so lange, bis er ein Auto hatte. Seitdem ist er sogar zum Sport mit dem Wagen gefahren. Es müsste mal überprüft und die Kette neu eingefettet werden, dann wäre es wieder fast wie neu. Hättest du Interesse daran?«

»Auf jeden Fall! Ich schau es mir gleich an. Und das ist für mich?«

»Wenn du es haben willst. Ansonsten steht es sowieso nur hier rum und das wäre doch schade. Außerdem kannst du dann auf eigene Faust losziehen.«

Caleb inspizierte das Fahrrad. Es hatte einen Rahmen in Blau-Metallic mit silbernen Rauten verziert. Auf dem vorderen Schutzblech hatte Eric wohl selbst mit Edding zwei schwarze Blitze gemalt. Sicher, es war etwas ramponiert, hatte da und dort Kratzer und man sah, dass Eric viel damit unternommen hatte. Es hatte Charakter. Er erinnerte sich an das Fahrrad, das er einmal gehabt hatte. Ein alter Mann hatte es ihm aus ähnlichen Gründen geschenkt, wie Anne jetzt. Seine Enkel waren erwachsen geworden, hatten Autos und ein eigenes Leben und besuchten ihn kaum. Er sah Caleb immer auf dem Weg in die Schule oder nach Hause laufen und sprach ihn eines Tages an.

»Hey, Junge, komm mal her.«

Erstaunt war Caleb zu ihm gegangen. Normal redete nie einer der Einwohner mit ihnen, als sei Armut eine ansteckende Krankheit. Der alte Mann hatte ihn in einen Schuppen geführt und auf das Fahrrad gezeigt.

»Hier, für dich. Zu schade zum Verrosten.«

»Wi-Wirklich, Sir?«

»Ja, nimm es und zisch ab.«

»Danke, Sir!«

Strahlend hatte er sich das Fahrrad geschnappt und nach Hause geschoben. Jede freie Minute hatte er darauf verwendet, damit zu üben. Es hatte ihn einige Blessuren und aufgeschürfte Knie gekostet, aber schließlich konnte er es fahren. Es schenkte ihm Freiheit und Unabhängigkeit. Er brauchte nicht so lange für den Schulweg, er konnte größere Strecken erkunden und war nicht mehr auf die Farm der Humphreys begrenzt. Er hatte es geliebt. Doch wie immer war sein Glück nicht von Dauer gewesen. Eines Tages fand er es nach der letzten Stunde mit krummgetretenen Reifen, zerrissener Kette und aufgesägtem Rahmen. Ein paar Jungs aus seiner Schule lungerten grinsend in der Nähe an einem Pick-up und warteten auf seine Reaktion. Obwohl ihm die Tränen in den Augen standen, unterdrückte er sie. Diesen Triumph wollte er ihnen nicht gönnen. Er wusste im Stillen, dass sein Fahrrad nicht mehr zu reparieren war, trotzdem hob er es hoch und machte sich auf den Weg nach Hause. Als er an der grinsenden Meute vorbeikam, sagte einer höhnisch: »Was ist denn mit deinem Fahrrad passiert? Passt jetzt aber viel besser zu einem asozialen Penner. Das sieht so abgefuckt aus wie du.«

Wolfswandler II: BlutwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt