Kapitel 5

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Als Caleb früh am anderen Morgen erwachte, fühlte er etwas Hartes an seinem Oberschenkel. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, worum es sich dabei handelte. Er schmunzelte. Ein weiteres Zeichen dafür, dass Aaron erwachsen wurde. Er löste sich vorsichtig von ihm und schlich auf den Flur, auf der Suche nach einer Toilette. Nach erfolgreicher Erledigung aller dringenden Geschäfte kam er zurück und schlüpfte unter die Decke. Aaron grummelte protestierend und kuschelte sich sofort wieder an ihn.

»Du hast eiskalte Füße!«, murmelte er vorwurfsvoll im Halbschlaf, aber war schon wieder weg. Caleb döste auch noch einmal ein.

Mrs. Robertson brachte ihnen kurz vor acht Uhr Frühstück, wie Caleb mit einem Blick auf seine Armbanduhr feststellen konnte, und teilte ihnen mit, dass Aaron um halb neun einen Termin bei Dr. Gardner, dem Psychologen des Heims hätte und Caleb dann um neun Uhr.

Nach einer schnellen Dusche und einem hektischen Frühstück wurde Aaron von ihr abgeholt. Caleb fragte sich, was das nun wieder sollte, aber wartete geduldig ab. Kurz vor neun war Mrs. Robertson da und führte ihn zu dem Arzt. Sie klopfte kurz an die Bürotür, dann schob sie Caleb hinein. Er sah sich um. Seine Vorstellung von Psychologen war vom Fernsehen geprägt und eigentlich hatte er ein helles, freundliches Büro mit einer Couch für den Patienten erwartet, aber das hier war eher eine Höhle, vollgestopft mit Büchern. Auf dem Schreibtisch mehrere unordentliche Stapel mit Akten und dahinter ein Mann mittleren Alters mit Goldrandbrille, der ihn professionell anlächelte.

»Ah, Caleb Hardin! Setz dich, setz dich!«

Zögerlich nahm er auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. Mit offiziellen Stellen hatte er nicht allzu viele gute Erfahrungen gemacht.

»Ich bin Dr. Gardner. Wie geht es dir?«

»Ganz gut, schätze ich.«

Er verlegte sich auf die Taktik, die er bei Zachary immer angewandt hatte. Kurze, knappe Antworten, von denen er vermutete, dass sein Gegenüber sie hören wollte. Das hatte sich im Casa del Humphreys tausendfach bewährt.

Dr. Gardner setzte einen mitfühlenden Gesichtsausdruck auf.

»Wir sind alle erschüttert über das furchtbare Erlebnis, das dir widerfahren ist und wir wollen dir helfen. Möchtest du darüber reden?«

Vor Calebs Augen blitzte plötzlich die Szene auf, als Sophies Wimmern und Klopfen hinter der abgeschlossenen Tür immer schwächer wurde und er verdrängte den Gedanken schnell.

»Nein, eigentlich nicht.«

»Gut, gut, vielleicht ein anderes Mal.«

Dr. Gardner blätterte in seinen Unterlagen.

»Caleb, du wirst ja bald siebzehn – genauer gesagt, in knapp zwei Wochen. Da ist es nicht mehr so einfach, dich in eine Pflegefamilie zu vermitteln. Daher wird es dich freuen, dass die Fürsorge gestern alle Hebel in Bewegung gesetzt und eine nette Familie für dich gefunden hat. Sie hatten bereits einen älteren Pflegesohn, der vor kurzem volljährig wurde und ausgezogen ist. Sie haben sich bereiterklärt, dich kurzfristig aufzunehmen. Freust du dich?«

Caleb war überrascht. Das Alles kam schnell und unerwartet. Und er traute dem Braten nicht. Die Humphreys waren ihm damals auch als nette Familie verkauft worden.

»Was hat Aaron dazu gesagt?«

»Aaron wird nicht mitkommen.«

»Was?«, begehrte Caleb auf.

»Wir glauben, es ist für euch beide nicht gut, wenn ihr euch ständig gegenseitig an das erinnert, was vorgefallen ist. Ihr müsst darüber hinwegkommen und die Zeit heilt alle Wunden. Daher stimme ich mit Mr. Gallagher überein, dass ein Neuanfang für euch beide das Beste ist, auch wenn es im Moment schmerzlich ...«

Wolfswandler II: BlutwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt