Wieder ein Pflegeheim, wieder neue Gesichter, an die man sich gewöhnen musste. Eine freundliche Mitarbeiterin zeigte ihnen ihre neuen Zimmer. Sie waren schnell eingerichtet, denn alles, was sie besaßen, trugen sie am Leib. Der Rest – wobei es ohnehin nicht viel gewesen war – war ein Raub der Flammen geworden.
»Vielleicht schläfst du erst einmal ein bisschen«, sagte die Mitarbeiterin, deren Namen Caleb nicht mitbekommen hatte, und sah ihn mitleidig an.
Er nickte und sie ging nach draußen. Caleb legte sich aufs Bett und überließ sich seinen Gedanken. Für Zachary und Theresa verspürte er keine Trauer, aber das Schicksal von Sophie und Emily nagten an ihm. Hätte er etwas anderes tun können? Tun müssen? Hätte er sie retten können, wenn er stärker gewesen wäre? Er wusste es nicht, doch eine leise Stimme in seinem Inneren stellte immer wieder diese Fragen. Es war dieselbe Stimme, die ihm früher lange eingeflüstert hatte, dass es seine Schuld war, dass seine Eltern ihn verlassen hatten. Er bemühte sich, sie zu ignorieren und an nichts zu denken. Zum ersten Mal an diesem Tag kam er zur Ruhe und wurde sich klar darüber, was geschehen war.
Sie sind tot! Oh Gott, sie sind beide tot!
Und endlich begannen die Tränen zu fließen, ein erster Schritt auf dem Weg zur Anerkennung der Realität und der Heilung.
Es klopfte zaghaft an seiner Tür. Schniefend wischte sich Caleb mit dem Kopfkissenbezug durchs Gesicht, bevor er antwortete.
»Ja?«
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und Aaron steckte den Kopf herein.
»Bist du wach?«, fragte er überflüssigerweise.
Caleb riss sich zusammen und nahm wieder seine Rolle als großer Bruder ein.
»Klar, komm rein.« Seine Stimme klang belegter, als es ihm recht war.
Aaron schloss die Tür hinter sich und blieb einen Moment zögernd stehen. Dann konnte er seine Gefühle nicht mehr zurückhalten. Weinend stürzte er auf Caleb zu und warf sich ihm an den Hals.
»Oh, Caleb, sie sind alle tot! Ich hab es alleine in meinem Zimmer nicht mehr ausgehalten!«
»Alles gut. Schscht!«, tröstete Caleb ihn und strich sanft über seinen Rücken.
»Was wird jetzt aus uns?«
»Ich weiß es nicht, Aaron. Aber wir werden zusammenbleiben, ich passe immer auf dich auf.«
Allmählich kam Aaron zur Ruhe.
»Versprichst du das?«
»Großes Ehrenwort!«
Sie saßen eine Weile schweigend auf Calebs Bett.
»Was glaubst du? Wie ist das passiert?«
»Ich schätze, Zachary ist besoffen eingepennt und hat eine brennende Zigarette fallen gelassen«, antwortete Caleb verbittert.
Aaron überlegte eine Weile, dann nickte er.
»Denkst du ... denkst du, Sophie und Emily hat es weh getan, als sie verbrannt sind?«
Aarons Frage erzeugte sofort schreckliche Bilder in seinem Kopf, die er sich gar nicht vorstellen wollte. Er entschied sich für eine barmherzige Lüge.
»Nein. Sie haben keine Luft mehr bekommen und sind friedlich eingeschlafen. Sie haben nichts gemerkt, als das Feuer kam.«
Er konnte an Aarons Blick sehen, dass er es besser wusste, aber lieber die Lüge glauben wollte.
Bevor sie weiterreden konnten, wurde die Tür schwungvoll geöffnet und Mr. Gallagher stand im Zimmer.
»Ah, da seid ihr ja beide. Eine furchtbare Tragödie!«
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Wolfswandler II: Blutwandler
FantasiCaleb hat kein einfaches Leben. Nach einem Unglück kommt er zwar bei einer liebevollen Familie unter, doch wird von seinem Pflegebruder getrennt. Beim Versuch ihn zu retten, schließt er tödliche Bekanntschaft mit einem Vampir. Als er wieder erwacht...