Björn

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Kapitel 35

Nicolas

Ein Schrei riss Nicolas aus seinen Gedanken und sorgte dafür, dass Violet, die friedlich in seinen Armen gelegen hatte, erschrocken den Kopf hob und ihn ansah.

"Sophie!", stieß sie aus und machte sich sofort daran aufzustehen, sich das Laken um den Körper zu wickeln und zu der Tür zu rennen, die das Schlafzimmer mit dem Gemeinschaftszimmer verband. Nicolas war nicht so schamvoll. Als er zu dem selben Schluss wie Violet kam, war er schon aufgestanden, ohne sich darum zu scheren, ob er nackt war oder nicht.

Deswegen war er auch wesentlich schneller bei Sophie angekommen und starrte mit entsetzen auf das Schauspiel, dass sich ihm offenbarte. Der Schrei, den Sophie ausgestoßen hatte, war kein Laut des Schmerzes gewesen und die heißen Tränen, die nun über das Gesicht seiner Schwester liefen, waren kein Zeichen von Trauer. Es war Freude.

Mit aller Gewalt, die in ihrem unsterblichen, aber zierlichen Körper steckte, hatte sie beide Arme um Björns Hals geschlungen und weinte bitterlich an seine Brust. Ihr eigentlich verschlungener Gefährte hielt sie , starrte aber eher verstört gerade aus, scheinbar ohne begreifen zu können, was los war.

"Was?" fragte Violet, die hinter Nicolas ankam und ebenfalls entsetzt reagierte. Nur Sophies leises Weinen durchbrach die Stille zwischen ihnen und Nicolas atmete tief durch, bevor er auf die Beiden zuging und seine Schwester von Björns Brust wegriss.

Für einen kurzen Moment ließ sie das zu, aber nur eine Millisekunde später fing Sophie so heftig an sich gegen einen Griff zu wehren, dass sie wütend die Fänge bleckte.

"Lass mich los! LASS MICH LOS, NICOLAS!" forderte sie lautstark und entwand sich seinem Griff, doch Nicolas bekam sie erneut zu fassen, bevor seine Schwester Björn wieder erreichen konnte.

Das war unmöglich. Es war absolut unmöglich.

Nicolas kannte diese Schale und was sie verschlang war unwiederbringlich verloren, sie gab nichts wieder her, was sie einmal in Besitz genommen hatte und als er einen genaueren Blick auf Björn warf, ahnte er auch, dass dies hier nicht wirklich sein Schwager war.

Niemals, und da war sich Nicolas sicher, würde Björn es zulassen, dass Nicolas Sophie so grob gegen ihren Willen festhielt, wie er es gerade tat. Alleine die Tatsache, dass dieser Mann, der nicht Björn sein konnte, einfach nur dastand und seiner Gefährtin nicht zur Hilfe kam, bestätigte seine Vermutung.

"LASS MICH LOS!" kreischte Sophie weiter.

"Bitte Sophie, du weißt doch, dass er es nicht..."

"IST MIR EGAL! LASS MICH ZU IHM!", unterbrach Sophie Violets Worte und forderte weiterhin umgehend zu dem Mann zu gelangen, der zumindest so aussah wie Björn. Ohne Erfolg. Nicolas würde sie nicht loslassen, selbst wenn seine Schwester sich dazu entschloss seinen Arm in Fetzen zu reißen. Womit sie definitiv jeden Augenblick beginnen würde.

"Du bist nicht Björn!" brachte Nicolas diesem Ding entgegen und der Mann vor ihm, diese Kreatur legte den Kopf schräg, schloss kurz die Augen und als er sie wieder öffnete, veränderte sich etwas in ihm. Die scheinbar leblose Statue, die nur vor sich hin glotzte, erwachte zum Leben.

So schnell wie er sich noch nie zuvor erlebt hatte, traf Nicolas die Faust seines Schwagers und ließ ihn nicht nur zurückstolpern, Björn schleuderte ihn komplett aus dem Zimmer heraus. Violet sah entsetzte dabei zu, war aber so geistesgegenwärtig, ihrerseits nicht anzugreifen. Dieses Ding war stark. Stärker, als es Björn je gewesen ist. Und wenn dieses Ding, das ist, was Nicolas vermutet, nämlich eine Personifizierung der Schale war es gefährlich ihn anzugreifen, wo er doch so gerne Königinnen verspeiste.

Doch anstatt zu versuchen Violet zu verschlingen, ging dieses etwas lediglich auf Sophie zu, die plötzlich ganz still geworden war. Vielleicht hatte sie nun endlich verstanden, dass der Mann nicht der Gefährte war, denn sie über so viele Jahrhunderte so intensiv geliebt hatte. Doch ob das für Sophie eine wirklich Rolle spielte, wusste Nicolas nicht. Nicolas eigener Irrsinn im Umgang mit Violet Tod hatte ihm gezeigt, wie leicht es für die Liebe war, zu etwas zu werden, was von Außenstehende eher als krank und pervers bezeichnet wurde. Nicht geringeres.

"Björn?" fragte Sophie atemlos, doch anstatt ihr zu antworten schlang es die Arme um ihren Körper und zog sie wieder an sich.

Violet kam auf Nicolas zu, doch sie hatte ihn nicht mal erreicht, da war schon wieder auf den Beinen und drückte probehalber auf seinen Unterkiefer um es wieder einrenken. In ein paar Minuten würde es wieder verheilt sein. Doch das interessierte ihn kaum. Wichtiger war, was mit seiner Schwester in den nächsten Minuten geschehen würde.

Fast erwartete Nicolas, dass seine Schwester von der Schale bereits verschlungen wurde, als er sich wieder auf die konzentrierte, aber so war es nicht. Die Schale schien nicht vorzuhaben, Sophie umzubringen, wie sie es mit ihren Gefährten getan hatte. Die Kreatur umarmte sie lediglich und rieb ihr sogar über den Rücken, als ein weiterer Weinkrampf Sophies zierlichen Körper erschütterte.

"Was hat das zu bedeuten?" fragte Violet während sie das Paar ebenso besorgt musterte. Aber Nicolas stellte sich diese Frage schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Es zu tun war in Anbetracht der Wesenheit der Deux Macinas sinnlos. Jedes einzelne war in seinem Charakter, seinen Fähigkeiten und seiner Entstehung so individuell wie die Menschen selbst. Manchmal schien es so, als wären sie bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen, aber das bedeutete nicht ,dass dies auf alle von ihnen zutraf. Nach Bedeutung zu fragen war reine Zeitverschwendung.

"Ich zieh mir erst einmal etwas an, dann sehen wir weiter", erwiderte Nicolas schlicht und warf noch ein letztes Mal einen Blick auf Sophie und diesem etwas, das vorgab Björn zu sein.

Nicolas (Bd.2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt