Verleugnung

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Kapitel 1
Sie war nicht tot, das konnte sie nicht sein, denn es wäre zu einfach gewesen. Aber auch wenn sie tatsächlich nie wieder erwachen würde, würde Nicolas immer noch genau hier sitzen und darauf warten, dass sie die Augen aufschlug und sie ihn mit diesen verstörenden grauen Augen ansah. Spot würde sich dann mit zu der Verwirrung mischen. Spott und Verlangen.
Sein Blut strömte bereits zu lange durch ihre Adern, um keine Auswirkungen auf sie zu haben. Blut war Macht und Energie für jeden Vampir, ob geboren oder nicht. Und wenn seine Macht durch ihre Adern pumpte, dann strömte auch seine Macht durch sie hindurch und zog sie an. In der Regel hatte sie sich gegen diese Anziehung gewehrt, genauso wie er sich dagegen gewehrt hatte in Versuchung zu geraten und diesen Umstand auszunutzen. Letztendlich hatte das alles nichts gebracht, sie war der Anziehung verfallen und er dem Schweinehund in sich.
Noch immer wurde er hart bei dem Gedanken Violet gegen diese Wand zu pressen und seine Zähne in ihrem Hals zu schlagen um herauszufinden, ob sie so gut schmeckte, wie sie für ihn roch. Es war sogar noch besser gewesen: Ihr Blut war berauschend gewesen, so berauschend, dass er nicht aufgehört hatte zu trinken, so berauschend, dass er sie umgebracht hatte.
Und nun war sie tot und das war seine Schuld.
Wie unzählige Abende zuvor bürstete er ihr Haar und drapierte es wie einen dunklen Heiligenschein auf dem Kissen unter ihrem Kopf, bevor er eine Decke über ihren kalten Körper zog und sich dazu zwang das Schafzimmer zu verlassen. Sie war auch diesen Abend nicht erwacht, wie so viele Abende zuvor schon nicht und Nicolas fragte sich ernsthaft, wie tief er noch in diesen Wahnsinn abrutschen konnte, die an seinen Verstand zerrte. Wie pervers es noch werden würde.
Violet war tot. Kein Herzschlag, kein beruhigendes Rauschen von Blut in ihrem Körper. Sie war tot und dennoch lag sie in seinem Schlafzimmer. Eine leblose wunderschöne Puppe, die einfach nur dalag, um ihm zu gefallen. Ihren Körper hatte die Zeit nicht eingeholt, wie es sonst bei Vampiren passierte, die ihr Leben verwirkt hatten. Ihr Körper war nicht innerhalb von wenigen Sekunden zu dem einer sechzigjährigen Frau geworden, der er hätte sein sollen. Das Malus hatte sie konserviert, hatte dafür gesorgt, dass die Zeit sie in Ruhe ließ und auch der übliche Zerfallsprozess bei Leichen nicht einsetzte.
Er war noch nie dazu in der Lage gewesen die Frauen loszulassen, die ihn beschäftigt hatten, selbst nach ihrem Tod nicht. Seine erste Ehefrau hatte er auch in seinem Bett behalten bis man ihm ihren Leichnam entrissen hatte und sie einäscherte. Die Frau, die ihn zwei Jahrhunderte folterte, um seinen Erschaffer zu bestrafen, hatte er ebenfalls behalten nachdem er sie getötet hatte. Mumifiziert und in einen Sarkophag gelegt, direkt neben der Asche seiner ersten Frau.
Er behielt sie nicht alle wegen so etwas wie Liebe. Seine Frau hatte er nicht geliebt, sie war nur das erste gewesen, das wirklich ihm gehört hatte. Der einzige Besitz, den ein Mann, ein Bauer, zu dieser Zeit wirklich besitzen konnte. Seine Peinigerin hatte er aus Hass behalten, hielt sie über ihren Tod hinaus gefangen als Bestrafung.
Aber Violet ... Violet. Ja, er glaubte bei ihr war es etwas, was zumindest Ähnlichkeiten mit Liebe hatte. Obwohl er nicht einmal wusste ob er so etwas wie Liebe überhaupt empfinden konnte. Er hatte schon in den Jahren als Mensch gelernt, dass er anders war, merkwürdig war. Das er die Menschen um sich herum nicht so sah, wie man es erwartete. Er sah Potenziale, Wertigkeiten und Dinge die man besitzen konnte. Er war Sammler geworden um diese Gier nach Besitz zu befriedigen. Besonders wertvolle Dinge hatte er gesammelt. Schmuck, Edelsteine. Dinge die man im Allgemeinen als Wertvoll betrachtete, doch er hatte schnell gelernt, das Reichtum nicht wirklich dasselbe war wie Wert. Dann hatte er seltene Dinge gesammelt. Schriftrollen, Kunstwerke ... Menschen.
Nicolas stieg tiefer in den in das Labyrinth hinab, dass er sein Zuhause nannte und das er bereits vor Jahrhunderten zu seinen wirklichen Zuhause auserkoren hatte. Er besaß unzählige Gebäude auf der Welt und wechselte regelmäßig seine Unterkünfte, aber das hier war etwas von dem nur er wusste, dass es überhaupt existierte.
Mitten im Kaukasus Gebirge, tief unterhalb der Welt der Menschen und Vampire, die momentan um Macht und Überleben kämpften, befand sich sein wahres Zuhause. Gänge, Schächte, Sackgassen und unendliche Verschachtelungen, von denen niemand etwas ahnte und niemand etwas wusste. Selbst wenn man es fand würde man niemals in sein Herz vordringen können. Dies hier war wohl der sicherste Ort auf der Welt und damit gerade gut genug um die Leiche einer für immer wunderschönen Vampirkönigin zu beherbergen.
Er selbst war hier gefangen gehalten worden. Damals, kurz nach dem Fall der Herrschaft der geborenen Vampire. Re, sein Erschaffen, hatte sich Feinde gemacht und er war zwischen die Fronten geraten und wurde hierhergebracht um zu leiden. Er hatte gelitten, zwei Jahrhunderte bevor er sich befreien konnte und die Frau hatte leiden lassen, die ihn gefangen genommen hatte.
Damals war es nur ein tiefer Schlot gewesen, der das Gebirge untergraben hatte, aber Nicolas hatte das Potenzial erkannt, seinen Wert. Er hatte tiefer gegraben, natürliche Gänge miteinander verbunden und ein vierdimensionales Labyrinth geschaffen, dessen Wege er selbst nicht alle kannte. Wenn er manchmal zu natürlichen Gängen durchgebrochen war, hatte er sie nicht immer erforscht, manchmal hatte er Gänge einfach vergessen.
Hier unten lebte er nun. Nachdem er Re den Rücken zugekehrt und nachdem dieser Violets Tod geforderte hatte. Nicolas hatte sie nie umbringen wollen, hatte nicht vorgehabt den Befehl seines Erschaffers zu gehorchen, aber er hatte es so hingestellt. Er hatte den Gehorsamen gespielt, um weitere Angriffspunkt zu vermeiden und sich wie der trauernde Meister, der er war, aus der Welt zurückgezogen.
Er wollte nicht daran glauben, dass Violet für immer fort war, wollte nicht damit beginnen ihre Geschichte zu Papier zu bringen und ihren Leichnam in die Krypta zu schaffen, wo er bereits einen gläsernen Sarg für sie vorbereitet hatte. Er wollte sie weiterhin berühren, ihren Duft einatmen und sich vorstellen sie schliefe nur. Aber die Zeit verging.
Mit schwermütigen Schritten glitt er die Meterhohen Bücherregale entlang, kam an Objekten vorbei, die er ebenfalls hinter Glas hielt und weigerte sich sie als eines dieser Dinge zu betrachten, auch wenn auf einem kleinen Podest bereits das gläserne Ungetüm stand, das sie beherbergen würde. Eine Königin, wie Schneewittchen in einem Sarg aus Glas und Gold. Für immer schön, für immer sein Eigentum. Die Gier, die ihn dazu verleitete sie mitzunehmen und hier zu behalten, hatte ihn längst in den Wahnsinn getrieben. Denn er hätte es wahrscheinlich sowieso getan.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Nicolas sie mit Gewalt bei sich behalten hätte und wenn nötig in ein künstliches Koma gesetzt hätte um sicherzugehen, dass sie bei ihm bleib, war hoch. Keines seiner Objekte war hier, weil es hier sein wollte und auch Violet wäre irgendwann gegangen. Aber sie gehörte ihm und würde immer nur ihm gehören.
„Ein Paket, Meister", unterbrach eine krächzende Stimme seine Gedanken und Vorstellungen. Wie ein Monster aus einer der Hölle selbst zog die misslungene Kreatur ein Bein nach und watschelte auf ihn zu. Ein weiteres Individuum, das er sein Eigen nennen konnte, aber eines das nicht sehr wertvoll war. Violet wäre schockiert, aber als er ihre Wohnung leergeräumt hatte um nichts zurückzulassen, war ihm dieses bedauernswerte Wesen aufgefallen, der schon immer Violets Nähe gesucht hatte. Benjamin, ein Obdachloser Alkoholiker, der sich immer vor ihrer Wohnung herumgetrieben hatte und selbst dem Wahnsinn so nahe war. Nicolas hatte gesehen, dass sich seine Königin mit ihm unterhalten hatte, ihn zu essen gab und lächelte, wenn sie ihn sah.
Auch ihn hatte Nicolas mitgenommen und dann tatsächlich einen Versuch unternommen ihn zu verwandeln. Auch wenn seine Schwester und ihr Gefährte davon ausgegangen waren er war ein Naturtalent, bewies dieses Wesen genau das Gegenteil. Bens Gesichtszüge waren erkaltet und würden nie wieder einem Gefühl Ausdruck verleihen können, sein Körper war etwas verbogen. Die Wirbelsäule krumm, ein Arm reichte bis zu seinen Waden, was ihn ungelenk gehen ließ und eines seiner Beine hinkte. Ansonsten war er allerdings für einen ersten Versuch gar nicht mal so schlecht. Er konnte sprechen, wenn auch nur mit einem krächzen und er konnte Befehle ausführen und ihm zu Diensten sein. Aber er entfernte sich nicht weit von Violet, sonst wurde er zu einem wimmernden Häufchen Elend unfähig sich zu bewegen. Selbst nach seiner Verwandlung quälten ihn die Stimmen, die in Violets Gegenwart verblassten.
„Der Absender?", fragte Nicolas kühl.
„Miss Margaretha. Ein Brief liegt bei", erklärte er und schleifte sich ungelenk zu Nicolas herüber und reichte ihm das kleine Paket, dass in einer Packstation in einer nahe gelegten Stadt abgegeben wurde. Die einzige Möglichkeit mit ihm Kontakt aufzunehmen und eine Brücke zur Welt die Nicolas nicht einzureißen gedachte.
„Soll ich das frische Blut für sie bereitlegen?", fragte das Wesen absolut emotionslos und Nicolas nickte, als er das Päckchen annahm. Ben war nichts weiter als ein Diener für ihn, dessen vorrangige Aufgabe es war, alles für Violets Erwachen vorzubereiten – wie lange es auch hin sein mag – und dazu gehörte es ihren Körper regelmäßig Blut durch eine Transfusion zu verabreichen. Nicolas hatte keine Ahnung, ob das irgendetwas bringen würde aber der Gedanke sie hungern zu lassen, auch wenn sie tot schien, machte ihn krank. Noch mehr als er es eh schon war.
Während Ben davon humpelte öffnete Nicolas den Brief, obwohl er wusste, was sich darin befand. Margareta gratulierte ihm zum Gewinn des Kopfgeldes, das sie auf Violet ausgesetzt hatte und drückte gleichzeitig ihr Bedauern aus über den Verlust seines Zöglings. Wäre Nicolas nicht schon so nahe am Abgrund, hätte ihn das sicher wütend gemacht, aber so legte er den Brief achtlos beiseite und öffnete das Paket, in dem sich eine Metallkugel befand.
Mystische Symbole zierten die ansonsten perfekt glatte Oberfläche und Nicolas wunderte sich ein weiteres Mal welche Formen die DeuxMacinas annehmen können. Es hieß Margareta sei in Besitz eines Spiegels gewesen, der einem die Zukunft Voraussagen könnte. Das Äquivalent dazu schien nun eine Wahrsagerkugel zu sein. Nur aus Metall und er hatte keine Ahnung wie er aus der Oberfläche irgendetwas erkennen sollte.
Aber das kümmerte ihn auch nicht. Er hatte diesen Preis erwartet und brachte ihn zu einer großen Vitrine, wo sich auch die Waffe befand, die sich nach seinen Vorstellungen formte und das Leere Buch, die leere Hülle, die übrig geblieben war als das Malus sich in Violet übertragen hatte. Es war erstaunlich ruhig in den letzten Monaten gewesen. Dort legte er die Kugel ab und überließ die Verpackung und den Brief seinem Diener, der gerade dabei war Flaschen mit Blut durch die Gänge zu tragen, um den Vorrat aufzufrischen. Für seinen Meister und für Violet. Nicolas wusste, woher sein Geschöpf dieses Blut nahm, Violet wäre einmal mehr schockiert, aber Nicolas stand längst über all diesen albernen Moralvorstellungen. Ihr Blut kam von ihm – natürlich. Aber er selbst würde niemals auf den Genuss verzichten zu wissen, dass für sein Überleben, für seinen Hunger, Menschen starben.

Beta: Geany

Nicolas (Bd.2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt