Songempfehlung: "Paradise" von Coldplay
Datenübertragung: Riss von Ice (POV), dreiunddreißig Jahre vor dem Geschehen.
Er hatte vernommen, wie jemand sang.
Er, dessen Name Riss lautete, der abends gern den Wall entlangspazierte, kleine Pfirsiche aß und sinnierte. Zugegeben, Riss war gelangweilt. Vom Kindsalter an zum Mönch erzogen, durchlebte er öde Alltage, routinierte Abläufe, sprach dieselben Gebete auf und las dieselben Schriften, immer und immer wieder, bis er der Frechheit nachgab, während den Vorlesungen einzunicken und leise auf der Bank vor sich hin zu schnarchen. Früher war ihm dafür oft auf die Finger gehauen worden. Nun, als verantwortungsvoller Erwachsener von achtzehn blutjungen Jahren, konnte er sich davor drücken. Ein Hoch auf die Entscheidungsfreiheit!
Er, Riss, der die Entscheidung gewählt hatte, dem abendlichen Gebet fernzubleiben, war just beschäftigt damit gewesen, über die Struktur des Himmels zu philosophieren, als es in seinen Ohren säuselte. Ein Stimmchen. Klein, aber fein, und hinabblickend und herausfragend, war auch sie klein, aber fein. Ein Mädchen – oder eine sehr junge Frau – in seltsamer Kleidung, zu edel und modisch, um von hier zu sein, mit langem schwarzem Haar, braunen mandelförmigen Augen, kalkweißer Haut und Fingern, die wie auserkoren waren, auf einer Harfe zu klimpern. Ihre Miene war ausdruckslos und ernst, ein wenig verstimmt. Doch alles andere an ihr fand Riss schön. Und am meisten bannte ihn, dass sie nur gesungen hatte, weil ihr eine Melodie untergekommen war, eine, die niemand hörte. Eine Melodie der Seelen. Gehört lediglich von jenen, die mit allen Seelen verbunden waren, und normalerweise galt dieses Privileg nur einem ihrer Götter. Also wer war dieses Mädchen? War es ein Gott?
Obwohl es jedermann verboten war, Ice der Außenwelt zu präsentieren, schmolz er die Kuppelillusion, die seine Vorfahren konstruiert hatten, und lud das Mädchen ein. Riss öffnete ihm das Tor, und es trabte hindurch mit einem Pferd aus Metall, wie er es noch nie gesehen hatte. Es glänzte purpurn im dunkelroten Schein der untergehenden Sonne, und es glomm aus den Augen wie eine Lampe. Sein Schatten verschluckte Riss, färbte ihn in Dunkelheit, und er war vor Ehrfurcht erstarrt, ehe ihm gewahr wurde, dass ihn das Mädchen von oben herab anstarrte, aalglatt, ohne das Gesicht zu verziehen.
Augenblicklich schloss er das Tor und vervollständigte die Kuppel, sodass sich keinem mehr die Chance bot, Ice von innen zu überblicken. Das Mädchen beobachtete ihn dabei, wie er es tat. Wie er die Hebel und Knöpfe im Torhaus tätigte, das komplizierte System absicherte und aktivierte. Es war nicht bei ihm. Es stand draußen, auf dem Metallpferd. Als er zurückkam, sagte es nichts.
Das übernahm er. »Darf ich auch Euren Namen erfahren?« Er wollte unbedingt wissen, wie er diese mysteriöse junge Frau ansprechen sollte. Mysteriös nicht aufgrund ihres plötzlichen Auftretens, nein, mysteriös der Aura wegen. Das erinnerte ihn an eine Hexe. Vielleicht war sie eine Hexe.
»Kazaka Azura«, antwortete sie knapp.
»Ihr habt zwei Namen?« In Ice trug niemand zwei. Höchstens einen.
Diesmal schenkte sie ihm keine Antwort, sondern guckte hinaus zu den Dörfern, Wiesen und Tempeln, schien die klumpigen Steinbauten zu studieren, die flachen, schindellosen Dächer zu analysieren, stoppte bei den Bauernhöfen, die Stroh und Grassoden schützten, betrachtete das umherstreunende Vieh und lächelte leicht, kletterte mit den Augen über Borke zu Wipfel eines Baumes, der gelbe sternförmige Früchte hievte, und folgte einem weißen Wolkenschweif, der in einer bauchigen Knolle mündete. Riss verstand nicht, warum sie so lange dafür brauchte, sich umzusehen, und wieso sie sich schier nicht bewegen konnte, weil sie die Umgebung gefesselt hatte. War es dort, woher sie stammte, etwas hässlicher?
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A Fall of Rain - Hawk's Eyes Serie
Science Fiction"Poetisch, kraftvoll, romantisch", ein Dark-Rainbow-Epos Dieser ist der zweite Teil von Hawk's Eyes. ACHTUNG: SEX, GEWALT, UMSTRITTENE THEMEN!!! 5 Jahre sind nach den Geschehnissen auf Francis vergangen. Während sich die Weltpolitik spaltet, feilt K...