»Selbstliebe.
Manche besitzen sie, andere kämpfen darum, sie zu erlangen. Jene, die sie kennen und in sich tragen, hatten das Glück, von ihren Eltern und ihrem Umfeld geliebt zu werden. Das Urvertrauen manifestierte sich. Es wurde von der vormaligen Generation weitergegeben. Jene, denen sie fremd ist, suchen sie im Außen, um sich zu füllen, und das wird als verwerflich betrachtet. Eine Schande, oder nicht? Sie führen einen Krieg um sich selbst und er wird ihnen durch derlei Vorwürfe sogar erschwert.
Die Wahrheit, die solche Krieger nicht hören wollen, ist nicht eben jene, die besagt, sie könnten sie durch Arbeit an sich selbst wiederfinden – denn das ist mühsam und unwahrscheinlich, nicht unmöglich, doch schwer zu erreichen –, sondern diese, zu akzeptieren, dass sie sich nicht lieben können. Und wenn wir nun genau darüber nachdenken ... ist das nicht erleichternd? Eine zwanghafte Suche wird eingestellt. Jedoch geht man nicht leer aus, da als Schadensersatz zur mangelhaften Selbstliebe ein weitaus schönerer Fund entdeckt wird. Einen, an den zu wenig gedacht wird. Welcher?
Um das zu erläutern, werde ich Bezug auf mich selbst nehmen. Ich liebe mich nicht. Ich werde mich nicht selber täuschen und es mir einreden, denn ich habe es noch nie getan und zudem nie für wichtig erachtet. Mir begegneten Seelen, die diese Täuschung vollzogen. Sie redeten sich ein, sich zu lieben, auf sich zu achten, klare Grenzen zu setzen – und was resultierte, waren fragile narzisstische Züge, die nicht nur ihre Beziehungen, sondern auch sie selbst und ihre Umwelt sabotierten. Statt sich in den anderen einzufühlen, wurde er ignoriert, weil man selber zu hadern hatte oder sich gar nicht mit den Problemen anderer mehr beschäftigen wollte. Oh, denn es sei ja wichtiger, sich nicht aus der Komfortzone zu bewegen. Wer sich selbst liebt, schließt Grenzen, richtig? Das ist wahr. Allerdings nicht solche. Wer sich nicht liebt, wird in den meisten Fällen eine falsche Selbstliebe praktizieren. Sie hat zur Folge, dass das Verhalten, mit dem man andere abblockt, wo sie einen brauchen, diejenigen vereinsamen lassen wird. Wer sich nicht um den anderen kümmert, um den wird sich ebenso nicht gekümmert. Dadurch gefriert die Welt. Sie wird zu Eis. Ich frage mich, ist das erstrebenswert, um sich selbst zu schützen? Sich selbst »zu lieben«?
Nein. Das ist so falsch, wie sich etwas einzureden, was nicht ist. Echte Selbstliebe zu gewinnen, ist ein langwieriger Prozess. Viele sterben, ehe sie sie überhaupt greifen können. Sich auf sich selber zu konzentrieren. Sich finden zu wollen. Ein Leben lang? Will man wirklich für das büßen, was die Kindheit innerhalb weniger Momente komplett ruinierte?
Ich entschied mich nicht dafür, an mich zu denken. Seit ich zu Gedanken fähig bin, gebühren diese anderen. Deren Wohl. Deren Glück, deren Pech, deren Freude, deren Trauer. Ich lebte ganz für andere. Und nur das, nur das erfüllt mich wirklich. Mich um andere zu sorgen und ihnen beizustehen, bewohnt die Leere in mir. Es ist schöner, als mich selbst zu lieben. Ich liebe lieber andere.
Es ist nicht Narzissmus, was die Welt und ihre Schäden bereinigt, es ist Altruismus. Selbstlosigkeit führ zu wahrer Liebe und wahrhaftigem Seelenfrieden. Sie erfüllt, sie säubert, sie läutert, sie lässt wachsen und gebären. Indem wir uns nicht abmühen, uns selbst zu lieben, verwelken wir nicht unter dem Druck und erschaffen eine gesunde soziale Gesellschaft. Gehen wir davon aus, jeder würde das Antrainieren einer Selbstliebe aufgeben und Liebe stattdessen extrovertiert ausrichten. Was würde passieren? Es ist leicht zu erraten.
Um jeden würde sich vom anderen gekümmert, und jeder versorgt wiederum denjenigen. Das ist kein Teufelskreis. Es ist ein Engelskreisel. Vielleicht bin ich zu idealistisch, ich weiß. Doch sollte man deswegen auf Egoismus beharren?
Man muss sich nicht selber lieben, um andere lieben zu können. Dabei handelt es sich lediglich um einen weitverbreiteten Mythos. Primär ist Liebe ein Gefühl. Oder könnt ihr etwa euer Haustier nicht lieben, weil ihr euch nicht liebt? Oder euren Partner? Würdet ihr behaupten, ihr liebt ihn nicht, obwohl ihr es haargenau fühlt? Nein, natürlich nicht. Die Fähigkeit, andere nicht lieben zu können, wird immerzu damit verwechselt, einfach nicht zu wissen, wie man dieses Gefühl, das man eindeutig spürt – Liebe! – in der Praxis umsetzt. Man liebt jemandem zum Beispiel von ganzem Herzen, doch verhält sich gegenteilig. Streitet, schlägt, betrügt, denn man kennt es nicht anders. Das ist etwas, wobei ich ein gewisses Maß an Selbstarbeit sehr wohl empfehlen würde. Selbstliebe? Vergesst es. Falls sie jemals kommen sollte, kommt sie und ihr werdet sie durch andere gefunden haben. Wie es Kinder von ihren Eltern erlernen, was ich zu Beginn meines Vortrags erwähnte.
Rose, sieh mich nicht an.«
Rose wurde blass im Klassenraum. »Wie bitte?«
Mit dem Gesicht zum Ausblick gewandt und der Hand nachdenklich am Kinn, lächelte Mrs. Light, und es warf sich im Fensterspiegel in die Klasse zurück. »Du musst dir nicht mein Antlitz merken. Es sind die Worte, die an dir hängenbleiben müssen. Die Worte. Sie sind von Bedeutung. Die Lösung liegt nicht in den Augen. Sie schläft in den Ohren. Den Ohren deines Herzens.«
DU LIEST GERADE
A Fall of Rain - Hawk's Eyes Serie
Science Fiction"Poetisch, kraftvoll, romantisch", ein Dark-Rainbow-Epos Dieser ist der zweite Teil von Hawk's Eyes. ACHTUNG: SEX, GEWALT, UMSTRITTENE THEMEN!!! 5 Jahre sind nach den Geschehnissen auf Francis vergangen. Während sich die Weltpolitik spaltet, feilt K...