Liebe Mama,
ich schreibe Dir diesen Brief, weil Du mir unheimlich wichtig bist und ich den Menschen da draußen gerne zeigen würde, wie groß Dein Herz ist.
Ja, dein Herz. Missverstanden und in Verruf gebracht, verleugnet und ins Dunkel gesetzt, so wie Gott die Sterne in die Nacht, statt in den Tag einbrannte. Das bist Du in den Augen Fremder, jedoch nicht in meinen. Nein, Mama, für mich bist Du der Mond, der zur Nacht den Einklang des Sternenmeers hütet, und Du glühst als einziges Licht, das uns ermöglicht, durch die Finsternis zu blicken. Du bist die See und bewachst die vom Land Ausgestoßenen, die Fische, welche verstummen mussten, weil sich alles über Erde wichtiger schätzt als das, was heimlich unter Wasser weint. Deshalb ist der Ozean auch salzig. Er ist ein Kummertrunk der Giganten. Es ist Deiner.
Mama, ich liebe Dich, weil Du trinkst und trinkst, wo andere lieber trocknen. Du fürchtest die Abgründe nicht, nein, Du stürzt Dich in sie, erforschst sie, um uns vor ihnen zu warnen. Und es bricht mir das Herz, dass Menschen Deine Absichten verschätzen.
Ich wünschte, sie wüssten, dass Du die Erste bist, die während eines traurigen Films zu schluchzen beginnt und Papa Dich trösten muss, damit Du aufhören kannst. Ich wünschte, sie wüssten, dass Du jede Deiner Bienen beerdigst und einen ganzen Tag lang nicht sprichst, da sie Dich gestochen hat und sterben musste. Ich wünschte, man würde Dir den Hut vom Kopf heben und sehen, dass Du nicht nur intelligent, sondern auch weise bist. Ich wünschte, Du würdest Deine Brille aus dem Gesicht schieben und Dich trauen, in einen Spiegel zu gucken auf dass Du erkennst, was ich erkenne: wie weich und gütig du blickst. Wie liebevoll. Und aufrichtig.
Ja, und wüssten die Menschen doch bloß, dass Du gelitten hast, als Du mich Tante Rose anvertrautest, denn Du vermisstest mich und hattest mich dennoch wegzugeben, um ihr die schattenlosen Jahre zu vereinfachen, die Du ihr beschert hast. Tante Rose brauchte mich, und Du schenktest mich ihr. Dadurch verbrachten wir weniger Zeit miteinander, aber ich bin dankbar für jede Sekunde, in welcher Du mich bettest, mich belehrst, mit mir sprichst, mich tadelst, mich umarmst. Deine Umarmungen, angeblich die kalter, toter Arme, sind die wärmsten, wärmer als die Sonne und wärmer als das Licht, und ich liege gern in ihnen.
Man sagt, Deine Taten wären grausam, Dein Wort zu streng und Dein Denken zu stoisch, doch ich sage, Deine Taten haben stets einen Sinn, Dein Wort ist bedächtig und Dein Denken dem anderer weit voraus. So erinnere ich mich an Deine Erzählungen aus früheren Tagen. Geschichten, die niemand kennt außer Unsere Familie. Was Du tatest, als Du eine der wenigen wurdest, der Zutritt zu Ice gestattet wurde. Wie auf stille Weise wortgewandt Du Dir unter den Mönchen einen Platz sichertest. Wie Du dort Deine Moral im Studium für Spirituelle Medizin überdachtest. Ein Jahr, verschollen. Du warst damals siebzehn und man kannte Deinen Namen nicht, und so nennt man Dich heute noch in Ice »den Fuchsgeist«. Den Weißen Fuchs, von dem niemand weiß. Eine Deiner Geschichten zum Einschlafen, doch die Wahrheit.
Du sprichst nicht nur die Wahrheit, Du bist ihr Symbol. Du hast Dinge nie beschönigt, die nicht schön sind, Du hast mir keine Lügen aufgetischt wie andere Mütter ihren Kindern, selbst wenn es nur harmlose waren wie die Lüge von der Zahnfee, die Zahn mit Münze tauscht, oder dem Wintermann, der Geschenke um Mitternacht durch den Schornstein schlittert. Du warst ehrlich, und Ehrlichkeit ist mir am liebsten. Ich mag keine Märchen, weil das Leben nie ein Märchen sein wird. Hingegen mag ich Geschichte, weil sie wahr ist und man aus der Vergangenheit lernen kann. Und ist es nicht ironisch, dass Tante Rose Geschichtslehrerin ist? Als wären wir alle perfekt füreinander geschaffen. Und vermutlich ist das auch so.
Meine frühste Erinnerung an Dich ist die, in welcher Papa mich mit Erdbeeren fütterte, ich auf seinem Schoß saß und Dir und meinen Brüdern zusah, wie ihr Felsen rolltet. Ich weiß bis heute nicht, warum ihr sie schlepptet, doch dich kennend, hatte es mit Sicherheit einen Hintergrund. Neal und Jesse lachten, sie hatten Spaß und schmissen sich gegenseitig immer wieder in den Dreck. Du hast sie beobachtet und gelächelt. Dein Lächeln ist von allen das Schönste. Und es ist die schönste erste Erinnerung ... gleich hinter der Deines Gute-Nacht-Liedes.
Ich bin stolz, Deine Tochter zu sein, Mama. Neal und Jesse sind stolz, Deine Söhne zu sein. Papa, Dich lieben zu dürfen. Tante Rose (auch wenn sie es nicht immer zugibt), tief mit Dir verbunden zu sein. Leider bedauerst Du, meinen dritten Bruder verloren zu haben, aber ich bin mir ganz, ganz sicher, dass selbst er stolz wäre. Ich schreibe diese Karte auch in seinem Namen. Mama, wir lieben Dich.
Du bist geheimnisvoll, und keiner wird dich je so verstehen wie ich. Wir sind alte Seelen, glaube ich. Du bist der Geist, der sich zum Dämon verfärbte. Also sind Dämonen wirklich böse? Vielleicht, vielleicht nicht. Ich bezweifle es. Denn ich habe Bücher gelesen, oh, so viele Bücher, Mama, dass ich dir gar nicht mehr alle Titel aufzählen könnte. Allerdings war eines davon die Bibel – so langweilig, wie man behauptet, ist sie gar nicht –, und eine der Figuren darin ist schließlich der Teufel. Luzifer, doch Luzifer bedeutet Lichtbringer. Daraus schließe ich, dass Gutes nicht immer gut sein muss und Böses nicht verteufelt. Nichts ist außer Wir. Wir, nicht einer. Grundtöne, Teile von Facetten. Die Farbe, sich reihend im Bogen, am Ende ein Topf voll Gold? Nein, aber erklären lässt er sich durch Wissenschaft. Und Wissenschaft ist Wahrheit.
Du.
Mama, ich hoffe, dass Du wenigstens mal einen Tag lang blind durch die Welt laufen kannst. Ein Tag ohne Sorgen, ein Tag ohne Vergangenheit und Zukunft. Das Hier und Jetzt genießen. Ich hoffe, wir können diesen Tag zusammen erleben. Womöglich könnten Du und Tante Rose euch ausnahmsweise auch nicht streiten. Das wäre toll.
In Liebe
Deine Rosy
*****
Danke.
DU LIEST GERADE
A Fall of Rain - Hawk's Eyes Serie
Ciencia Ficción"Poetisch, kraftvoll, romantisch", ein Dark-Rainbow-Epos Dieser ist der zweite Teil von Hawk's Eyes. ACHTUNG: SEX, GEWALT, UMSTRITTENE THEMEN!!! 5 Jahre sind nach den Geschehnissen auf Francis vergangen. Während sich die Weltpolitik spaltet, feilt K...