Kapitel 16

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Ich stehe im Eingang der Zentrale und lausche den Anderen. Bisher hat mich noch keines der Mädchen bemerkt. Ich spitze die Ohren. "Ich verstehe ja, das es notwendig ist. Aber wie lange wird sie das durchhalten. Sie liebt es draußen unterwegs zu sein und ich glaube, lange wird sie sich nicht im Hintergrund halten wollen oder gar können." Sofort ist mir klar, das sie über mich reden. Ich lächle. Sie haben recht. Ich liebe es, selbst Aufträge zu erledigen. Ich bin nicht wie Emma, die den ganzen Tag in einem Raum eingesperrt arbeiten kann. Ich brauche meine Freiheit, meine Bewegung.

Bevor das Ganze weitergeht oder sogar eskaliert, räuspere ich mich. Sofort verstummen die Gespräche und alle Blicken liegen auf mir. "Guten Morgen die Damen." Maya kommt auf mich zu, drückt mir eine Tasse mit Kaffee in die Hand. Ich nicke ihr dankend zu. Wir begeben uns an den großen Tisch und zwei der Mädchen wollen schon aufstehen um uns Platz zumachen, doch stoppe ich sie. "Bleibt ruhig sitzen, ich stehe lieber." Von Maya neben mir höre ich ein zustimmendes Gemurmel. 

"Also kommen wir gleich zum Punkt. Ihr kennt die aktuell Situation. Wir stehen wieder ganz am Anfang. Das heißt wir müssen irgendwie wieder ins Geschäft kommen. Einen Auftrag haben wir bereits. Es ist zwar ein Sicherheitstransport, aber aktuell können wir nicht wählerisch sein. Die Frage ist: fächern wir unsere Tätigkeiten auf, bis wir wieder im Spiel sind. Ja oder nein?" Ich sehe in jedes einzelne Gesicht. Und wie es zu erwarten war, sehe ich keinerlei Bedenken in den Blicken. Nach und nach nicken alle einmal bestätigend. "Gut. Die Bereiche, die wir erst einmal abdecken werden sind Sicherheitstransporte, Bodyguarding und Auftragsmorde. Wir kennen eure Stärken und Schwächen und werden das natürlich berücksichtigen." In einigen Augen sehe ich etwas aufblitzen und grinse. Ich weiß genau, was sie denken.

Alle sind froh, das wir nun drei Bereiche abdecken. Einige lieben Auftragsmorde. Einige sind froh, wenn sie nur Sicherheitstransporte machen müssen. Aber alle lieben es Bodyguards zu sein. Natürlich kann es langweilig sein. Aber es ist immer wieder witzig, wenn eine Frau als Bodyguard angeheuert wird. Niemand rechnet damit und jeder unterschätzt uns.

Emma unterbricht meine Gedanken. "Ruby ich hab da was für dich. Das solltest du dir ansehen." Sie reicht mir mein Tablet. "Geh auf das Videoprogramm. Der Ausschnitt von dem Gespräch zwischen dem Paten und dem Fremden ist bereits geladen." Ich nicke ihr zu. "Hast du es verlangsamt?" Nun nickt sie. "Soweit es notwendig war. Du bist immerhin die Einzige von uns, die Lippenlesen kann. Ja, ich weiß", erstickt sie meine kommende Aussage direkt "es ist nicht zu hundert Prozent sicher, das sie genau das sagen, was du liest. Aber besser als gar nichts." Sie zwinkert mich zu und bleibt neben mir stehen.

Ich starte das Programm und drücke auf Play. Es ist nur ein kurzes Video. Vielleicht 3 Minuten lang. Mit konzentriertem Blick auf dem Bildschirm, beginne ich mit dem Tablet in der Hand im Raum auf und ab zu laufen. Ein flaues Gefühl bildet sich in meinem Magen und mit jedem Wort, das die beiden sagen, wird mir schlechter. Das kann doch nicht wahr sein. Das muss ein Scherz sein. Als das Video endet, bleibe ich ruckartig stehen.

"Rose?" Mayas Stimme lässt mich meinen Blick von dem Bildschirm reißen. Alle sehen mich besorgt an. "Wie schlimm ist es?" fragt sie mich nun. Wenn es stimmt, was ich gelesen habe, haben wir ein verdammt großes Problem. "Ich", setze ich an, doch stoppe sofort wieder. Die Übelkeit erreicht ihren Höhepunkt, doch ich erlaube ihr nicht, auszubrechen. Mit aller Kraft dränge ich sie zurück. Langsam nähere ich mich dem Tisch. Sofort springt Kim auf und zerrt mich auf ihren freien Platz.

"Oh Gott Kommandantin! Du bist kreidebleich! Ist es so schlimm?" Automatisch nicke ich. Emma kommt mit einem Glas Wasser zu mir. Als sie es mir in die Hand drückt, trinke ich einen Schluck und spüre, wie die Übelkeit abnimmt. Wie sage ich es ihnen, ohne das sie in Panik verfallen. Ich versuch es einfach. Die Mädchen haben eine Erklärung verdient.

"Ihr wisst, das der Pate hinter uns her ist. Vor allem hinter mir, aber auch hinter der kompletten Einheit." Kurz halte ich inne. Okay, es muss jetzt raus. "Er und seine Männer sind nicht die Einzigen, die uns jagen." Ich nehme um mich herum wahr, das die Anderen nach Luft schnappen. Gemurmel wird laut. "Wer?" fragt Yasmin. Sie ist ganz ruhig. Behält die Nerven. Wir alle haben es schon einmal erlebt, das einzelne von uns gejagt worden sind, doch nie die komplette Einheit. Ich hebe meinen Blick, treffe auf ihren. Ich lasse ihn weiter wandern. Sehe in jedes einzelne Augenpaar. Die letzten Augen, die ich sehe bevor ich zu seiner Antwort ansetze, sind die von Maya.

"Alle." 

Stille. 

"Alle?" fragt Maya verblüfft. Ich nicke. "Die Russen, die Franzosen, die Amerikaner, die Deutschen, selbst die verdammten Iren sind hinter uns her." Erneute Stille. "Aber woher wissen sie von der Situation?" Das ist der Moment in dem die Übelkeit wieder kommt. Und der Moment, in dem die Anderen es begreifen. Es geht nicht darum, das wir gejagt werden oder von wem. Es geht darum, wer die Informationen weitergegeben hat, das wir aus Spanien geflüchtet und nun im Prinzip 'Freiwild' sind. Es geht darum, wer uns verraten hat. Ich schüttle den Kopf, nehme mir das Glas Wasser und trinke noch einen Schluck. Doch die Übelkeit hält sich dieses Mal.

Ich habe ja geahnt, er würde alles tun. Ich habe geahnt, das wenn es ihn weiterbringt, er mich, er uns, verraten würde. Doch zwischen ahnen und wissen gibt es einen himmelweiten Unterschied. Maya kommt auf mich zu, kniet sich neben mich. Vorsichtig nimmt sie meine Hand, drückt sie leicht zur Bestärkung. Keiner sagt etwas, alles ist ruhig. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Es scheint als würden alle die Luft anhalten. Ich schaue in Mayas Gesicht. Danach wende ich meine Augen ab und mustere die Mädchen. Das wird der Schock ihre Lebens, denn keine von ihnen hätte ihm das zugetraut. Aber sie kennen ihn auch nicht so gut wie ich. Erneut hole ich tief Luft. Bitte lass meine Stimme fest sein. Ich darf jetzt nicht schwach wirken.

"James."

Die Dornen der RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt