Raphael wanderte durch die Gänge seines Anwesens. Seit dem Gespräch mit seinem Sohn war etwas Zeit vergangen, doch nun hatte er die Nachricht erhalten, dass sie heute kommen würden. Gadriel lief neben ihm, er konnte die Aufregung des Engels spüren. In der Zeit, in der Aleks im Himmel gewesen war, hatte Gadriel ein enges Verhältnis zu Aleksander aufgebaut. Er hatte sich ebenfalls mehr als alle andere für den Schutz von Aleksander und den anderen Trägern eingesetzt, zusätzliche Schichten angenommen.
„Aleksander ist ein Schatz, der nicht verloren gehen darf. Deshalb werde ich alles tun, um ihn zu schützen."
Das waren Gadriels Worte gewesen.
Dieses Mal würde sein Sohn nicht einfach ein Portal rufen, auch wenn er es konnte, sondern über den offiziellen Weg gehen. Sie traten in den Raum, in dem Gäste ankamen und begrüßt wurden. Die Luft begann zu flimmern und ein Portal öffnete sich. Aus diesem traten der blonde Engel, an der Hand einen kleinen schwarzhaarigen Jungen mit himmelblauen Augen.
Sayenne. Auch wenn der kleine Junge mehr Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, so waren es die Augen, die ihn an seine verstorbene Liebe erinnerten – Sayenne, Aleksanders Mutter.
Neugierig, wenn auch zurückhaltend, schaute der kleine Dämon zu den beiden Engeln. Dass ein Dämon den Himmel betrat, war lange her gewesen, doch dieser hier bildete eine Ausnahme. Es war der Enkel des Erzengels Raphael, sein Sohn derzeit der Gott der Zeit, also weitaus mächtiger als ein Erzengel.
„Sai", erklang die weiche Stimme, die ihn erneut an Aleks' Mutter erinnerte. Er ist ihr Ebenbild. Daran würde sich nichts ändern. „Das ist... dein Großvater", beendete Aleks den Satz.
Für einen Moment spürte Raphael ein Ziehen in seiner Brust. Aleks hatte ihn nie Vater genannt, wird es vermutlich auch nie, doch den Titel des Großvaters enthielt er ihm nicht vor. Langsam ging Raphael auf die Knie, schaute den kleinen Jungen an, der sich hinter dem Bein seiner Mutter versteckte.
„Tubuna?", erklang die kindliche Stimme. Unsicher schaute Sai zu Aleks, dann zu dem Mann mit den weißen Haaren.
„Esai?", sagte Raphael, versuchte seine Aura von dem Kleinen fernzuhalten, um ihm keine Angst einzujagen.
Unsicher lief der Kleine nach vorne, der Hand entgegen, die der Mann ihm zu streckte. Die kleinen Finger schlossen sich um diese, doch Sai lief weiter. Er trat vor den Erzengel und legte seine kleine Hand an die Wange, während er sich immer noch an der Hand festhielt.
Raphael spürte die warme Hand, dann geschah etwas Einzigartiges. Vor ihm öffnete sich eine Welt aus Farben. Er blinzelte, doch er kehrte nicht in die Realität zurück. Die Farben begannen Form anzunehmen, dann sah er Bilder. Bilder von einem Dämon mit gelben Augen – dem Höllenfürsten Astaroth, Sais Eltern Belial und Aleks, sowie weiteren Personen. Er spürte bei diesen immer unschuldige, liebevolle Gefühle. In diesem Moment wusste er, dass sein Enkel ihm die Personen zeigte, die ihm wichtig waren, dass er seine Gefühle spürte. Verstehe. Die Hand löste sich von ihm und er kehrte zurück. Ein weiteres Mal legte Sai die Hand an Raphaels Wange, doch er wartete.
Nun bin ich also am Zug. Er wusste, dass sein Enkel der Träger von Empathie war, doch die Stärke, die er damit besaß, war noch nicht greifbar. Er legte seine Hand auf die seines Enkels und schloss die Augen.
Sai empfing ebenfalls Bilder und Gedanken. Er sah eine Frau mit blonden Haaren, die im Wind wehten. Er sah Bilder von dem weißhaarigen Mann, wie er bei dieser Frau war und neben ihnen war ein Junge mit braunen Haaren und ein Baby im Arm der Frau. Dann folgte ein Bild vom Himmel, wie Raphael flog.
Begeisterung bildete sich auf dem Gesicht des kleinen Dämons ab. „Fliegen", sagte dieser und schaute zu seiner Mutter.
Aleks beobachtete die beiden, dann nickte er Raphael zu, stimmte der stummen Frage zu.
Raphael breitete seine silbernen Flügel aus, was seinen Enkel in Erstaunen versetzte. Die kleinen Hände streckten sich nach den Schwingen aus und er ließ zu, dass dieser sie berührte. „Wie bei Na", sagte Sai, fuhr über die Federn.
Nach kurzem griff er unter Sais Arme und hob ihn hoch, drückte ihn an seine Brust. „Dann wollen wir fliegen, Esai", sagte der Erzengel. Sie liefen nach draußen, bis sie unter dem freien Himmel standen. Mit einem spektakulären Start hob Raphael vom Boden ab und flog dem Himmel entgegen.
Aleks beobachtete sie vom Boden. Gadriel stellte sich neben ihn und schaute dem Spektakel zu. „Es bedeutet meinem Sire viel, dass sein Enkel hier ist." Die Hoffnung stand deutlich in dessen Augen.
„Es ist ein kleiner Schritt, doch ich weiß nicht, ob ich ihm jemals verzeihen werde", erwiderte Aleks.
Gadriel verstand, dennoch machte es ihn traurig. Dass Raphaels Sohn trotzdem Sai mitgebracht hatte, rechnete er ihm hoch an. Es zeugte von einer Charakterstärke, die nicht viele besaßen.
Raphael flog mit Sai über die Stadt, zeigte ihm von oben die Bibliothek und den Markt. Schließlich landeten sie in dem großen Garten in seinem Anwesen. Der obere Teil des Deckenlichtes war offen, sodass sie hineinfliegen konnten. Begeistert rannte der kleine Dämon zu den Blumen, begutachtete sie.
Aleks trat zu dem Engel, der seinem Enkel beim Spielen zusah.
„Ich danke dir, dass ich an seinem Leben teilhaben darf", sagte Raphael. Er konnte das Gesicht seines Sohnes nicht lesen.
„Vielleicht ist er deine zweite Chance, dass du das erleben kannst, was du bei mir und Zack verpasst hast."
Raphael wusste, dass es eine unausgesprochene Warnung war. Wenn er erneut einen Fehler machte, würde er keine weitere erhalten. Das werde ich nicht. Er würde Sai beschützen. „Ihr seid jederzeit willkommen", sagte er. Diese Einladung hatte er vor mehr als zehn Jahren schon ausgesprochen, doch er tat es erneut.
Sein Sohn nickte nur, dann ging er zu dem kleinen Wirbelwind, der eine Kette aus Blumen gebastelt hatte. Aleks hob diesen hoch und trat zu dessen Großvater. Sai legte Raphael die Kette um den Hals und lachte.
„Wir werden bald wieder kommen. Ich sende eine Nachricht", sagte Aleks zum Abschied.
Der Erzengel nickte nur, fuhr mit den Fingern über das allererste Geschenk seines Enkels. Er begleitete die beiden noch bis zum Portal, welches sein Sohn rief. Bevor sie jedoch hindurchtraten, drehte Sai um und lief noch einmal zu dem Erzengel.
Raphael kniete erneut und die kleine Hand legte sich an seine Wange. Ein Gefühl von Zuneigung durchflutete seinen Körper, das ein Versprechen enthielt. „Bis bald, kleiner Wirbelwind", sagte er und drückte nochmals liebevoll die kleine Hand.
Sai drehte um und rannte zu seiner Mutter. Gemeinsam verschwanden sie und das Portal schloss sich.
„Er ist wahrlich ein Geschenk der Götter", erklang Gadriels Stimme, der zu seinem Sire getreten war. Einen solch warmen Ausdruck hatte er schon lange nicht mehr in dessen Augen gesehen.
„Das ist er", erwiderte Raphael und drehte sich um, während seine Finger sanft über die Blumenkette fuhren.
_____________________________
gewünscht von Draco-Granger
DU LIEST GERADE
Sai - ein schicksalhafter Gedanke (BAND 7) ✅️
ФэнтезиEin schallende Ohrfeige schleuderte Sais Kopf zur Seite. „Achte darauf, mit wem du sprichst. Das geht dich nichts an", erklang eine wütende Stimme. In diesem Moment wusste Sai nicht, was er fühlte. Fassungslosigkeit, Entsetzen, Wut, Schmerz. Er hat...