Special - Enfant Terrible

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Die Zeit ist etwas, gegen das kein Mensch ankommt. Sie zerrinnt zwischen den Fingern bis der Zeiger der inneren Uhr zum Stillstand kommt. In diesem Augenblick blickt jeder zurück, auf das Leben, das dieser gelebt hat. Hatte er alles getan, was er sich gewünscht hatte? Bereute er etwas?

Jean öffnete seine Augen, doch er wusste, dass sein Ende vor ihm stand. Die letzten Körner der Sanduhr, die sein Leben darstellte, rannen dem Boden entgegen. Er bereute nichts, nein. Jean hatte sein Leben gelebt, in vielerlei Zügen genossen. Er hatte die Liebe gefunden, der er nun ins Jenseits folgen würde, hatte das getan, wofür er geboren wurde. Bis zum Schluss waren aus seinen Händen und seinem Kopf die wunderschönen Stücke entstanden, die auch nach seinem Ableben weiter existieren würden.

In diesem Augenblick kamen ihm zwei Augen in den Sinn – schwarz mit einem silbernen Ring. La séduction. Seine Muse, die ihn durch jedes Tal geleitet hatte. Dieser Mann hatte seine Kleidung getragen, hatte ihr das Leben eingehaucht. Diese Stücke waren seine Meisterwerke gewesen – sein Lebenswerk. Neben ihm stand das Bild auf dem Tisch, der Beweis, dass es keine Einbildung gewesen war. Sie standen dort neben ihm, der Engel und sein Liebster. Nein, er wusste, dass es keine Engel waren, auch wenn sie so schön wie diese waren.

Mit einem Lächeln würde er dieses Geheimnis mit in sein Grab nehmen, denn dieses Bild gab es nur für ihn, für niemand anderen. Dieses Geschenk hatte er ihm gemacht und er hatte es gehütet, bei sich bis zum Schluss neben dem Bild seines Liebsten.

Das Piepen der Maschine wurde langsamer. Ein Schatten wanderte über die Wand und er drehte den Kopf, wurde für einem Moment von einem silbernen Leuchten geblendet. Dann stand er dort. Er sah die silbernen Haare, die wunderschönen Augen, und er trug den Anzug, den er für ihn geschneidert hatte. Ein sinnliches Lächeln lag auf den Lippen.

„Ach Jean, was machst du nur", erklang die Stimme, die zahlreiche Herzen geraubt hatte.

Lyric trat zu ihm und kniete sich vor ihn, sodass er auf seiner Augenhöhe war, nahm seine Hand.

„Meine Zeit ist gekommen, mon ami", sagte er leise. Jean konnte die Trauer in den Augen des Mannes sehen, der ihm sein Leben ermöglicht hatte.

„Ich weiß und ich werde bei dir sein", erwiderte dieser. „Ich werde dir die Ehre erweisen, die du verdienst, Enfant Terrible." Lyric nahm dessen Hand und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

Jean musste lächeln, als Lyric ihn bei seinem Spitznamen nannte. „Wo ist dein zauberhafter Gefährte?", krächzte er, hustete leicht.

Lyric richtete sich auf, aktivierte eine Rune, sodass seine Handfläche aufleuchtete. Diese legte er auf Jeans Brust und der Schmerz verschwand. „Ich kann dir die Schmerzen nehmen, doch dein Leben kann ich nicht verlängern.

Ein leichtes Lächeln breitete sich auf den Lippen des Sterbenden aus. „Das ist in Ordnung. Ich habe mein Leben gelebt und werde zu meinem Liebsten zurückkehren. Ich bereue nichts."

„Das ist auch gut so", erklang eine helle Stimme. Ein junger Mann mit rubinroten Augen und schwarzen Haaren mit grünlichem Schimmer trat zu Lyric. Er trug ebenfalls den Anzug von dem Bild. Beide standen dort, genau wie damals. Sie waren keinen Tag gealtert. Er hat seine Liebe gefunden.

„Gibt es noch etwas, was du begehrst, Jean?", fragte Lyric.

Jean schaute zu den beiden und seine Seele fand Frieden. „Nein, außer der Wunsch, dass ihr mich mit den beiden Bildern in einem meiner Anzüge begrabt."

„Dann werden wir das tun", sagte Nix. Er trat zurück und schaute den sterbenden Menschen an. „Nun verabschieden wir uns, wie es in meiner Heimat Tradition ist."

Jean schaute zu dem Mann, der die Hände hob. Sie wanderten durch die Luft, dann schloss dieser die Augen. Lichter begannen den Raum zu erleuchten, dann begann Nix zu singen. Er sang ein Lied über den Abschied und den Neubeginn, den Zusammenhalt und Liebe. Die Töne erfüllten den Raum.

Ein tiefer Friede überkam Jean, denn all der Schmerz und die Angst verschwanden. Mit den Klängen des Engels schloss er die Augen und schlief ein. Mit der letzten Note endete der letzte Schlag von Jeans Herzen und sein Atem verstummte.

Er war gegangen.

Nix ging zu Lyric und umarmte ihn, der sein Gesicht in dessen Halsbeuge vergrub. „Es ist in Ordnung. Seine Seele kommt in den Himmel zu seinem Liebsten", flüsterte Nix.

Lyric nickte, dennoch tat es weh. Er hatte Jean als jungen Mann getroffen und sie hatten eine Bindung aufgebaut, die er in Erinnerung behalten würde.

Gemeinsam verließen sie den Raum.

Wenige Tage später traten sie erneut in die Menschenwelt. So standen sie am Rande, als Jean zu seinem Liebsten in das Grab gelassen wurde. Er trug einen Anzug und die beiden Bilderrahmen lagen in seinen Armen. In dessen Gesicht stand ein friedlicher Ausdruck, ein sanftes Lächeln.

Tränen wurden vergossen, die Trauerenden standen um das Grab, das einen der begabtesten Modeschöpfer seiner Zeit nun bewachte. Als diese gegangen waren, traten die beiden vor. Lyric stellte sich vor das Grab und legte einen Straß Sonnenblumen auf das Grab. „Das sind doch deine Lieblingsblumen, mon ami", sagte er.

Nix stand neben Lyric, hielt ihn. Langsam legte Lyric seine Hand auf den Grabstein, kniete sich mit gesenktem Kopf vor diesen. Damit erwies er Jean die letzte Ehre. „Ich danke dir und wünsche deiner Seele den tiefen Frieden, den sie verdient. Ruhe in Frieden, mon ami."

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gewünscht von HihSKB

Sai - ein schicksalhafter Gedanke (BAND 7) ✅️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt