Pünktlich zum Wochenende fuhr die Kutsche von Fürst Silas auf den Innenhof der Burg.
Schon lange vorher war die Ankunft des Bruders des Königs angekündigt worden und so standen Aaron und Finya bereits im Burghof.
Kaum, dass die Kutsche zum Stehen gekommen war, wurde der Schlag bereits geöffnet und ein fünfjähriger Junge sprang heraus, um seinem Herren die Türe aufzuhalten.
Finya lächelte, als sie den Knaben erkannte. „Ichiro..." formten ihre Lippen stumm, während sie das Kind beobachtete.
Auch Ichiro stockte in der Bewegung. Vergessen war die Türe, die er aufhalten sollte.
Er wollte gerade auf Finya zu rennen, als ihn eine scharfe Stimme aus dem Inneren stoppte. „Ichiro.."
Betreten senkte der Junge den Kopf und hielt brav die Türe auf.
Im nächsten Augenblick tauchte erst Silas Kopf auf und kurz darauf stand der Fürst neben seiner Kutsche.
So verärgert, wie er zuerst geklungen hatte, so freundlich verhielt er sich nun gegenüber dem jungen Sklaven und strich ihm sogar beinahe liebevoll über den Kopf.
„Natürlich darfst du Finya begrüßen, Ichiro. Aber darüber darfst du nicht deine eigentlichen Aufgaben vergessen."
„Ja, Herr..." erwiderte Ichiro kleinlaut.
Silas lachte leise. „Jetzt lauf schon..."
Noch kurz verneigte sich der Junge und rannte dann bereits auf seine Stiefschwester zu. „Finya..." rief er strahlend.
Lächelnd ging Finya in die Knie, fing Ichiro auf und schloss ihn liebevoll in ihre Arme.
Unterdessen trat Fürst Silas auf seinen Bruder zu und umarmte ihn zur Begrüßung.
„Danke, für die Einladung, Bruder."
Schmunzelnd blickte er auf Ichiro, der sich immer noch strahlend an Finya drückte.
„Der Junge liegt mir seit deinem Brief in den Ohren, wann er endlich Finya wieder sehen darf..."
Aaron lachte leise auf. „So schlecht sein Vater Finya auch behandelt hat...Der Junge scheint sie fast schon zu vergöttern."
Dann wurde er jedoch wieder ernster. „Ich nehme mal an, Ichiro hat sich bei dir gut eingelebt?"
„Das hat er, Bruder. Anfangs war es noch schwer. Er hat seinen Vater vermisst. Aber er hat sehr schnell verstanden, was fortan seine Aufgabe ist."
Aaron nickte leicht. „Brauchst du den Jungen gerade? Andernfalls würde ich vorschlagen, dass Finya ihm alles hier zeigt, während wir in mein Büro gehen und alles besprechen."
Silas nickte leicht. „Ichiro...?"
Sofort blickte der Junge auf, löste sich von Finya und trat an seine Seite. „Ja, Herr?"
„Geh mit Finya mit und macht euch einen schönen Tag. Ich brauche deine Dienste heute nicht."
Ichiro strahlte. Dann umarmte er Silas. „Danke, Herr."
Fragend blickte Finya zu ihrem Herren, der ihr zunickte. „Du kannst ihm alles zeigen, was du möchtest." bestätigte er ihr.
Während Aaron und Silas bereits die Burg betraten um in Aarons Büro alles nötige für die nächsten Wochen zu besprechen, beobachteten Finya und Ichiro, wie die Kutsche abgeladen wurde.
Erstaunt hob Finya die Augen, als einer der Sklaven eine Kiste mit Spielsachen von der Kutsche hob.
Sofort stürmte Ichiro auf ihn zu und zog ein kleines Stofftier heraus, das er fest an sich drückte.
„Gehört das alles dir, Ichiro?"
Ichiro nickte eifrig. „Ja. Ich habe jetzt viel mehr Spielsachen als bei Papa. Und auch ein viel schöneres Zimmer. Und ich bekomme immer etwas zu essen, wenn ich Hunger hab. Und Fürst Silas ist richtig nett zu mir. Ich muss ihm nur ein bisschen dienen, aber das ist nicht schlimm. Das macht sogar manchmal Spaß.", erklärte Ichiro ohne Luft zu holen, so dass Finya keine Chance hatte, seinen Redefluss zu stoppen.
Statt dessen lächelte sie. „Dann gefällt es dir also bei deinem Herren?"
Erneut nickte Ichiro. „Ja. Am Anfang habe ich Papa ganz doll vermisst. Aber Fürst Silas hat mir erklärt, dass Papa ganz böse zu dir war. Dass du wegen ihm immer Schmerzen gehabt hast. Das war richtig gemein von Papa." erklärte er und schob fast schon trotzig die Unterlippe vor. „Ich mag Papa nicht mehr."
Finya lächelte traurig. „Komm, Ichiro. Ich zeige dir den Garten. Vielleicht ist Taro ja auch dort..."
„Können wir vorher etwas essen? Ich habe ganz doll Hunger, Finya."
Leise lachte Finya auf. „Dann komm. Wir gehen in die Küche."
In der Küche kümmerte sich Finya zuerst darum, dass Ichiro etwas zu Essen bekam.
An einem der Arbeitsplätze sah sie auf einmal Taro stehen. Suchend blickte sie sich um und entdeckte schließlich den Küchenmeister. „Ich bin gleich wieder bei dir, Ichiro."
„Lucien...?" wandte sie sich respektvoll an den Küchenmeister, der sie fragend anblickte. „...ich soll Ichiro, dem Sklaven von Fürst Silas, hier alles zeigen. Dürfte Taro uns vielleicht begleiten?"
Lucien seufzte leicht und blickte dann zu Taro. „Nagut. Der Junge war heute bereits mehr als fleißig...." erwiderte er.
„Taro...du kannst für heute Schluss machen. Geh mit Finya mit..."
Kurz darauf standen alle drei Sklaven im Garten. Während Finya auf einer der sonnenbeschienenen Bänke Platz nahm, begannen Taro und Ichiro gemeinsam im Garten zu spielen.
Entspannt und glücklich lehnte Finya sich zurück.
Sie hatte immer gehofft, dass es Ichiro gut gehen würde. Durch ihre eigene Erfahrung bei Fürst Silas war sie sich dessen aber nie so ganz sicher gewesen - trotz der Beteuerungen ihres Herren.
Dass es ihm jedoch SO gut gehen würde und der Junge regelrecht aufgeblüht war, hätte sie nie erwartet.
Der Nachmittag neigte sich bereits dem Ende, als Ichiro sich schließlich erschöpft neben Finya setzte.
„Na, genug getobt?" wandte sie sich schmunzelnd an ihn.
Müde nickte Ichiro.
„Soll ich dir noch einen anderen meiner Lieblingsplätze zeigen?"
Sofort begann das Kind zu strahlen. „Na dann komm..." erwiderte Finya lachend und nahm Ichiro an die Hand. Sofort griff dieser mit der anderen Hand nach Taro und gemeinsam stiegen sie hinauf in den vierten Stock.
Vor einer Türe blieb Finya stehen und schob den Riegel zurück.
Kurz darauf trat Ichiro auf eine Dachterrasse, die von der Nachmittagssonne beschienen wurde.
Es war genau die Terrasse, auf die Dimitri Finya damals geführt hatte.
Seit damals hatte sich nicht viel geändert. Noch immer war der Boden mit Moos überzogen. Noch immer machte die Terrasse einen fast schon verwilderten Eindruck. Doch gerade das machte den Charme dieses Ortes aus.
Finya nahm das Kind erneut an die Hand und ging mit ihm bis an die Brüstung.
Ichiro stütze sich auf der Brüstung ab und versuchte, sich ein Stück hochzuziehen, um mehr sehen zu können. Sofort lösten sich einzelne Steine aus dem Putz und fielen herunter.
Sanft zog Finya den Jungen ein Stück zurück. „Ich hebe dich hoch, dann kannst du besser sehen." schlug sie vor.
Strahlend thronte Ichiro kurz darauf auf Finyas Arm und blickte sichtlich fasziniert über die Landschaft, die sich bis zum Horizont unter ihm erstreckte.
Gemeinsam beobachteten Finya, Taro und Ichiro, wie die Sonne unterging. Erst, als das letzte Stück der Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, setzte Finya den Knaben wieder auf den Boden.
„...es ist spät geworden, ihr zwei..." wandte sie sich an die beiden Jungen. „Wir sollten zurück zu unseren Herren gehen, bevor sie uns suchen."
Enttäuscht nickte Ichiro und warf einen letzten Blick auf die Landschaft unter ihm bevor er die Terrasse verließ.
Gemeinsam stiegen sie die Stufen hinab und standen wenig später vor Aarons Bibliothek wo sich, wie Finya wusste, die beiden Herren aufhalten würden.
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Finya 3
VampireTeil 3 meiner Finya Reihe. Auch hier gilt: Bitte zuerst die anderen Teile lesen. Wie bei Teil 2 sind die Kapitel fortlaufend nummeriert. Imperator Aegir ist tot und stellt keine Gefahr für Finya mehr da. Dennoch muss sich Finya den Geistern ihrer...