Ich hatte gedacht Sophias Schreie vorhin wären die schlimmste Qual auf Erden. Doch nichts war vergleichbar mit diesem schmerzerfüllten Schrei, der die ganze Halle zum Beben brachte. Der Anblick von ihr, wie sie sich an ihren Vater klammerte, wie sie ihren schlimmsten Alptraum durchlebte, wie sie innerlich starb und sich gerade nichts sehnlicher als den Tod wünschte, um diesen Schmerz nicht mehr ertragen zu müssen, war das grauenvollste, was ich je gesehen hatte. Ich wusste nicht was ich tun sollte, wie ich ihr helfen sollte, weil sie so tief gefallen war, dass ich sie nicht mehr erreichte. Tränen strömten über ihr Gesicht, sie schluchzte und schrie nach ihrem Vater. Doch nichts davon brachte ihn zurück. In der Ferne hörte ich Sirenen aufheulen, doch das nahm Sophia nicht mehr war. Sie stürzte sich auf ihren Vater versuchte seine Wunde zu stopfen, sein Herz wieder zum Laufen zu bringen, doch man sah das sein Geist den Körper verlassen hatte. Und Sophia war gerade dabei auch ihre Seele zu verlieren, weil sie ihn nicht gehen lassen konnte.
„Sophia bitte wir können nichts mehr tun", flehte ich sie an und versuchte sie am Arm zu berühren, doch sie schlug mich nur weg.
Dann kamen Ärzte, Sanitäter und Polizisten hineingestürmt. Sophia schrie die Ärzte an etwas zu tun, ihren Vater wiederzubeleben, doch es war vergeblich. Sie probierten es mehrmals mit dem Defibrillator und dem Beatmungsgerät, doch es war eindeutig, Jack hatte uns verlassen, er hatte sich geopfert, um seiner Tochter das Leben zu ermöglichen, wie schon ihre Mutter.
Die Ärzte hievten seine Leiche auf eine Trage und wollten sie abdecken, doch Sophia hinderte sie daran.
„NEIN IHR WERDET IHN NICHT SO EINFACH AUFGEBEN! ER KANN ES NOCH SCHAFFEN! BITTE HELFT IHM!", rief sie völlig verzweifelt und schubste die Ärzte weg, klammerte sich an die Leiche und schrie und weinte. Ein Arzt gab mir zu verstehen, sie wegzunehmen und so packte ich sie sanft von hinten und zog sie von ihrem Vater weg, was mir das Herz zerriss. Sie schrie und trat nach mir aus.
„Lass mich los, du kannst mich nicht davon abhalten ihn zu retten. Theo tu mir das nicht an, bitte!" Sie wurde immer wilder und traf mich einige Male sehr hart in die Rippen, doch ich hielt sie fest umklammert in meinen Armen. Bereit sie aufzufangen und weinte an ihrer Schulter, weil ich ihren ganzen Schmerz spüren konnte und er unaushaltbar war.
Irgendwann hörte sie auf mich zu treten und zu schlagen. Ihre Schreie wurden leiser und verwandelten sich in ein einziges herzzerreißendes Schluchzen. Sie sackte in sich zusammen und fiel leblos in meine Arme. Jegliche Kraft, jeglicher Wille, jegliche Freude hatte sie verlassen. Sie bestand nur noch aus Trauer und Kummer und ich fragte mich, ob dieser Mensch jemals wieder geheilt werden könnte. Denn jetzt gerade bezweifelte ich dies stark.
Die Polizisten kamen auf uns zu, doch ich blockte sie ab und auch die Ärzte verteidigten uns, dass sie Abstand von uns nehmen mögen. Ich hielt Sophia die ganze Zeit über fest in meinen Armen, wo sie von Minute zu Minute in immer kleinere Scherben zersprang. Plötzlich kamen Henry und Sam mit Nick herein. Ich hatte Nick gar nicht mehr beachtet, nach dem die Schüsse gefallen waren. Sie sahen ziemlich mitgenommen aus, als wären sie gerade aus ihrer eigenen Schlacht gekommen. Sie sahen von mir zu Sophia zu den Sanitätern und hatten einen Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht. Sie übernahmen zum Glück die ersten Gespräche mit den Polizisten und fuhren mit ihnen auf die Wache. Ich hatte keine Ahnung, ob Mason und Ethan geflohen waren oder geschnappt wurden. Es war mir auch egal, weil das Einzige was mich gerade beschäftigte war Sophia, die hilflos in meinem Armen lag und nur noch aus einer innerlichen Leere bestand. Wir wurden netterweise nach Hause gefahren. Ich hielt sie die ganze Zeit über in den Armen und streichelte sie behutsam, in der Hoffnung ihre Scherben zusammenrücken zu können, doch sie war unendlich gebrochen. Ich trug sie bis in mein Schlafzimmer, legte sie behutsam ins Bett und kuschelte mich ganz fest an sie. Ich wusste nicht was ich tun sollte, doch ich wollte ihr einfach nur das Gefühl geben da zu sein. Irgendwann fiel sie vor lauter Weinen in einen unruhigen Schlaf, denn das letzte bisschen Kraft war ihr nun aus dem Körper gewichen. Ich sah eine Nachricht auf meinem Handy aufleuchten, dass die Jungs kurz vorbeikommen wollten, um mich auf den neusten Stand zu bringen, wenn ich Zeit hätte. Ich antwortete ihnen kurz und so trafen sie bereits zehn Minuten später bei mir ein. Ich schlich mich vorsichtig aus dem Zimmer, wobei ich am liebsten einfach nur neben Sophia liegen wollte, aber ich musste erfahren, was passiert war.
„Hey", begrüßte ich die drei nüchtern. Doch statt zu antworten, gingen sie einfach nur auf mich zu und umarmten mich fest. Die Geste sagte mehr als tausend Worte und ich spürte ihr Mitgefühl und ihr Mitleid.
„Es tut uns so unendlich leid, wir hätten vielleicht...", begann Henry, doch ich unterbrach ihn, denn ich wollte hier niemanden die Schuld dafür geben, was heute Nacht passiert war und wie es gelaufen ist.
„Also nachdem wir auf dem Weg umgekehrt sind, haben wir darauf gewartet, dass Nick, den wir vorher im Lüftungssystem eingeschleust hatten, Ethan und seine Gefolgschaft ablenkt, sodass wir wieder vorrücken können. Schließlich ist das ganze ja völlig eskaliert und dann sind uns die Drecksschweine mit ihren Bodyguards direkt entgegengelaufen. Somit hatten wir eine miese Prügelei, haben der Polizei jedoch genug Zeit verschafft, dass diese die beiden schnappen konnten. Sie sitzen jetzt gerade in Gewahrsam. Danach haben wir einige Aussagen getätigt, zudem was du uns erzählt hast und wie viel wir wussten. Sie würden aber auch gerne eine Aussage von dir und vor allem von Sophia bekommen, um mit den direkten Anklagen gegen die beiden vorgehen zu können", erklärte mir Sam.
„Spinnt ihr ich schick Sophia doch nicht dahin nur um das ganze nochmal zu durchleben. Sie besteht gerade nur noch aus Scherben, die sie Stück für Stück aufschlitzen und hat gerade auch noch ihren Vater verloren und in gewisser Weise auch noch ihrer Mutter!", sagte ich empört und wütend zugleich.
„Hey man das können wir doch verstehen, wir sehen das genauso. Wir wollten dir nur sagen, was die Polizei uns auf dem Revier gesagt hat", erwiderte Henry beschwichtigend.
„Danke", sagte ich, denn mehr wusste ich nicht zu sagen.
„Hey alles gut, wir werden versuchen dir so viel wie möglich zu helfen und vom Hals zu halten, okay? Pass du bitte gut auf Sophia auf. Wir haben alle Angst um sie und fühlen schrecklich mit ihr", sagte Nick und klopfte mir auf die Schulter.
„Danke, könntet ihr mir vielleicht schon einen Gefallen tun und mit ihren Freundinnen reden, die machen sich sonst mit Sicherheit sorgen. Sag ihnen, dass ich mit ihnen sprechen werde, wenn Sophia bereit für Kontakt ist, aber im Moment ist sie nicht mal bereit zu leben, so kaputt wie sie ist", erwiderte ich und die drei nickten mir aufmunternd und verständnisvoll zu. Ich verabschiedete mich von ihnen und wollte mir gerade ein Glas Wasser holen, als ein spitzer Schrei ertönte. Ich rannte so schnell es ging zum Schlafzimmer und sah Sophia eingerollt im Bett am Weinen, Schreien und Wimmern.
„Ich bin da Sophia, ich bin da", versuchte ich sie zu beruhigen und schloss sie in meine Arme. Ich streichelte ihren Rücken auf und ab, in der Hoffnung ich könnte alle ihre Narben, die sie zierten, verschwinden lassen.
So lagen wir Minuten Stunden oder Tage dort. Manchmal schlief sie, manchmal schrie sie aus einmal Alptraum auf und die restliche Zeit weinte sie an meiner Brust. Ich hatte das Gefühl sie nicht in ihrem Loch erreichen zu können. Sie sprach und aß nicht. Ich brachte ihr Essen ans Bett, doch sie rührte es nicht an. Irgendwann setzte ich sie auf und versuchte ihr etwas Suppe einzuflößen, doch sie starrte nur leer in die Ferne.
„Ich bitte dich Sophia, du musst nicht mit mir reden, aber bitte iss irgendetwas", sagte ich verzweifelt, denn ich wusste nicht mehr weiter. Dann sah sie mich das erste Mal seit Tagen an und den Menschen, den ich vor mir sah, den ich in ihr sah, das war nicht mehr Sophia. Ich erkannte, dass sie sich in ein eigenes Gefängnis voller Schuldgefühle, Trauer und Scham gesperrt hatte und sich damit selbst bestrafte. Dann nahm sie mir das Brötchen aus der Hand und tunkte es in die Suppe. Ich war unglaublich glücklich darüber, dass sie nun endlich wieder etwas zu sich nahm und anscheinend noch ein Rest Überlebenswille in sich trug. Denn die drei Tage hungern, hatten sie noch mehr als ohnehin schon mitgenommen.
Irgendwann habe ich sie dann ins Badezimmer getragen. Sie hatte keine Anstalten gemacht, aber mir auch nicht großartig geholfen, das ganze leichter zu machen. Ich setzte sie in die Badewanne und fing an ihre Haare und ihren Körper mit warmem Wasser zu waschen und einzuseifen. In der Zwischenzeit halfen ihr ihre Freundinnen dabei die Beerdigung zu organisieren und alle weiteren Angelegenheiten zu klären. Die Polizei nervte ständig damit, dass Sophia ihre Anklage noch persönlich erheben müsste, dabei sprach sie gerade mit niemanden. Ich wusste nicht mal mehr, ob sie noch lebte, oder mit ihrem Vater gestorben war. Nachdem ich sie angezogen und zurück ins Bett bringen wollte, sagte sie das erste Mal seit Tagen wieder etwas.
„Kannst ...kannst du mich zu mir fahren?" Das waren ihre einzigen Worte. Ich hatte das Gefühl ihre Stimme vergessen zu haben und sah sie mit großen Augen an, als sie mir diese Frage nach Tagen der Stille stellte.
„Aber natürlich wir können sofort losfahren, wenn du magst", bot ich ihr an und sie nickte. So fuhren wir zu ihrer Wohnung und stiegen vor dem Haus aus. Es war stürmisch am Regnen und so sprintete ich zur Haustür und bemerkte nicht wie sie stehen blieb. Ich blickte zurück und sah, dass sie mitten im strömenden Regen stehen geblieben war und ihr Gesicht dem Himmel entgegenstreckte. So stand sie einfach nur da und ich wusste nicht, ob sie mit dem Himmel weinte, oder es einfach nur die Regentropfen waren, die ihr Gesicht runterliefen. Ich ging auf sie zu und umarmte sie und ließ den Regen uns umgeben.
„Was tust du da?", fragte ich sie leise.
„Ich weine mit meinen Eltern", sagte sie mit geschlossenen Augen und ließ ihren Tränen freien Lauf und auch ich konnte sie nun nicht mehr verbergen und weinte mit ihr. Es war ein unglaubliches befreiendes Gefühl. Ich ließ meine Wut und meine Trauer in meine Tränen fließen und mit dem Regen verschmelzen. Ich konzentrierte mich nur noch auf das Prasseln des Regens auf meinem Kopf, meinen Armen und meinen Schultern. Ich wollte in dem Meer aus Tränen versinken, in der Hoffnung es könnte meinen und Sophias Schmerz überschwemmen. Dann irgendwann löste sie sich von mir und ging vorsichtig in Richtung Haustür. Sie öffnete sie und ging Schritt für Schritt die Treppe hinauf.
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Schattenpfade im Licht - gefährliches Verlangen
ChickLitHast du dich auch schon einmal blind auf deine Gefühle verlassen und dich von etwas Dunklem hinreißen lassen? Vor dieser Frage steht die 23-jährige Sophia, die eigentlich ihr ganzes Leben in New York durchgeplant hat. Doch was, wenn da plötzlich jem...