Vincent saß noch immer dort, wo sie ihn verlassen hatte und starrte ins Leere. Sein Gesicht war tränennass.
Jeanne mochte sich nicht einmal vorstellen, was er jetzt vor seinem inneren Auge sah, was seine Aussage in ihm ausgelöst hatte.Langsam trat Jeanne an ihn heran, legte ihm die Arme um die Schultern und zog ihn behutsam zu sich und Vincent lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. Jeanne zog ein Tuch aus einer Tasche ihres Kleides und tupfte ihm die Tränen aus seinem Gesichtsfell.
„Schschsch", machte sie leise „es ist vorbei."
Nach einem Weilchen schlang Vincent seine Arme um Jeannes Taille und drückte sie an sich.
„Ohne dich wäre ich dort unten gestorben.", raunte er erstickt „Und mein Kopf würde wahrscheinlich irgendwo in diesem Haus an einer Wand hängen, als Trophäe."Es musste ja einen Grund geben, warum seine Folterer bei ihren ‚Behandlungen' stets seinen Kopf und sein Gesicht verschont hatten und Vincent konnte sich, nach Frosts Aussage, nur diesen einen vorstellen.
Jeanne schwieg und streichelte nur sacht über Vincents wilde Mähne und hauchte ihm schließlich einen zärtlichen Kuss auf den Scheitel.
„Ein Leben ohne dich", hauchte sie in seine Höröffnung „wäre für mich zwar möglich, aber es wäre sinnlos."
Darauf hob Vincent den Kopf und ihre Lippen fanden sich zu einem zarten und liebevollen Kuss.
„Für mich auch.", erwiderte Vincent nach einer Weile ebenso leise.Es dauerte Wochen, bis die versprochene Nachricht von Maxwell Jeanne erreichte.
Er ließ ihr einen Brief zukommen, in dem er ihr genau den Standort der gefundenen DNA-Proben, die vermutlich von Vincent stammten, nannte und auch wo die Daten zu diesen üblicherweise gespeichert wurden. Auch gab er ihr eine Beschreibung der Routinen in diesem Gebäude und dem Labor und der Schwachstellen desselben.
Mit Unterstützung der Helfer an der Oberfläche hatte Jeanne zwei Tage später einen machbaren Plan und begab sich in die Stadt, um noch einmal bei Tageslicht das Gebäude auszukundschaften. Um nicht aufzufallen, verbarg sie dabei ihr weißes Haar unter dem hellblauen Hijab, den sie schon einmal getragen hatte.
In der Nacht darauf trug sie nur noch ihren schwarzen Anzug aus lichtschluckendem, robustem Material, samt Handschuhen und Kappe.
Sie schlich sich auf das Gelände und erkletterte das Dach über die Feuerleiter.
Von dort, so hatte Maxwell ihr geschrieben, gab es einen Belüftungsschacht, der in die Labors führte, in dem die Proben aufgearbeitet, analysiert und aufbewahrt wurden.
Als sie oben ankam, stellte sie fest, dass der Schacht so eng war, dass selbst sie kaum hineinpasste und Jeanne war froh, es Vincent ausgeredet zu haben, sie zu begleiten.
Auf dem weiten, flachen Dach wäre seine riesige und massive Gestalt auf jeden Fall aufgefallen und mit hinein hätte er ohnehin nicht gekonnt.Jeanne schlängelte sich nun schon seit geraumer Zeit durch die Lüftungsrohre und erreichte schließlich das Labor.
Sichernd blickte sie durch eine der Ansaugöffnungen im Rohr und zuckte zurück. Im Labor waren zwei Männer und schienen etwas zu suchen. Sie standen vor einem der Kühlschränke, in denen die Proben, an denen die Wissenschaftler arbeiteten, aufbewahrt wurden und durchwühlten dessen Inhalt.
„Verdammt!", fluchte der eine, ein kleiner Mann mit schütterem, weißem Haar „Wo haben sie diese Proben nur versteckt?"
„Und wenn sie sie ...?", setzte der andere, ein vierschrötiger Kerl mit dunklem Haar und offenbar nicht übermäßiger Intelligenz, an.
„Vernichtet haben?", beendete der kleine mit verächtlicher Stimme „SOLCHE Proben?? Ganz bestimmt NICHT! Sie müssen hier irgendwo sein!
Sieh dich um, ob du noch mehr dieser Kühlschränke findest!"
„Okay!", meinte der Große und verließ das Labor.Jeanne wusste genau wo die Proben, nach denen offenbar auch die beiden suchten, waren. Doch um an sie heran zu kommen, musste sie entweder hier das Belüftungssystem verlassen, oder sie musste direkt über dem Kleinen durch das Rohr kriechen und beides würde nicht ohne Geräusche abgehen.
Eine Weile blieb Jeanne also an ihrem Platz und beobachtete den Kleinen, während sie vorsichtig die Verschlüsse des Gitters löste.
Plötzlich meldete sich das winzige Funkgerät des Kleinen.
„Ich hab hier noch so einen Kühlschrank gefunden.", ertönte es aus dem Lautsprecher.
„Wo?"
„Zwei Türen weiter, in einer Art Privatlabor, wie es aussieht."
„Okay, ich komme."
Der Kleine verließ das Labor und Jeanne löste nun endgültig das Gitter vom Schacht und sprang hinunter. Sie schlich sich leise zu einem der Untersuchungstische unter dem eine Art Minitresor stand, der mit einem Kabel aus der Wand dahinter verbunden war.
Schnell gab sie eine Zahlenkombination in die entsprechende Einheit ein und die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken.
Im hellen Licht, das aus dem gesicherten Kühlfach schien, sah Jeanne einige Hautfetzen in Petrischalen liegen, auf deren Deckeln sorgfältig beschriftete Etiketten klebten, die aussagten, wo und wann diese Proben gefunden worden waren.
Eine der Schalen zog ihren Blick besonders an, denn auf ihr zeigten sich noch einige goldbraune sehr kurze Haare, die dicht beieinander standen. Vorsichtig nahm Jeanne die Schalen heraus, die an derselben Stelle gefunden worden waren und legte sie auf den stählernen Tisch. Dann schloss sie den Tresor wieder und richtete sich auf ...
Plötzlich wurde das Licht im Raum angeschaltet und in der Tür standen die beiden Männer, die sie vorher schon gesehen hatte.
Beide hielten Waffen in der Hand, die auf sie gerichtet waren.
„Na, es scheint, dass da jemand gefunden hat, was ich suchte.", bemerkte der kleinere.
Er winkte mit seiner Waffe.
„Schön langsam her schieben und dann die Hände hoch, so dass ich sie sehen kann.", befahl er.
„Und wenn ich es nicht tue?", fragte Jeanne und blickte, scheinbar ungerührt in die Mündungen.
„Dann knallt dich mein Freund hier" Er wies mit dem Kopf auf den vierschrötigen. „ab und wir nehmen uns, was wir wollen."
Jeanne aktivierte ihre Shaqarava im Kampfmodus, hielt ihre Hand jedoch so, dass das grelle Leuchten, das selbst den Stoff des Handschuhs durchdrang, im hellen Licht nicht zu sehen war.
„Das werde ich auf keinen Fall zulassen, dass dieses Material in eure Hände gerät.", setzte Jeanne fest und zerstörte in Sekundenbruchteilen die Schalen samt Inhalt.
„Knall sie ab!", fauchte der Kleine, doch Jeanne ging bereits in Deckung und so flog die Kugel nur dicht an ihr vorbei und krachte in die Wand hinter ihr.
Die Frau ließ sich nicht ablenken, streifte ihre Handschuhe ab und steckte sie in ihren Gürtel, da sie wusste, dass ihre Shaqarava ohne den Stoff noch effektiver waren und feuerte unter den Tischen hindurch mit geringer Energiestärke auf die Beine der Männer. Diese wurden ihnen weggerissen und beide stürzten zu Boden und Jeanne sprang auf den Tisch vor sich.
„Scheiße!", fluchte eine tiefe Stimme „Sie hat eine Waffe."
„Und die Proben sind auch im Arsch!", zischte der Kleine.
Dass die beiden dabei Zeichen unter dem Tisch austauschten, bemerkte Jeanne von oben nicht und war so einigermaßen überrascht, als plötzlich hinter ihr ein Schuss krachte und die Kugel sie am Arm traf. Offenbar hatten die Männer versucht, ihren Waffenarm zu verletzen, damit sie sich nicht mehr zur Wehr setzen konnte. Vielleicht wollten sie sie dann ihrem Auftraggeber übergeben, wenn sie schon die Proben nicht hatten.
Jeanne ließ sich vom Tisch fallen und feuerte, diesmal mit voller Stärke, in Richtung des Schützen und traf. Ein kurzes Aufleuchten und der Vierschrötige war nicht mehr mehr als ein kleines Häufchen Staub.
Der Kleine schoss noch einmal auf sie, während er versuchte, den Raum zu verlassen, doch eine Sekunde später war auch er Geschichte und Jeanne lehnte sich keuchend an die Wand und streifte ihre Handschuhe wieder über.
Dann griff sie nach einem Glas mit einer bestimmten Lösung und kippte es auf den Tisch, den sie mit ihren ungeschützten Händen berührt hatte. Die Lösung würde binnen kürzester Zeit jede noch so winzige organische Spur vernichten und ihr Anzug verhinderte, dass Blut von der Verletzung darunter irgendwohin gelangte. Als das erledigt war, aktivierte Jeanne noch einen der Computer im Raum und lud ein Virus, das sie auf einem Stick von einem der Helfer bekommen hatte, in selbigen herunter, welches jede Spur der Daten, die die Wissenschaftler bereits aus den Proben gewonnen hatten vernichten würde und danach machte sich Jeanne wieder auf den Rückweg, so wie sie gekommen war.
Sie hatte ihre Mission erfüllt und dafür gesorgt, dass der Fehler, der ihr bei Vincents Befreiung unterlaufen war, keine Folgen mehr zeitigte.Gegen Morgen erreichte sie die Kammer, die sie mit Vincent und ihrer gemeinsamen Tochter bewohnte, und wankte hinein.
Fast sofort wurde sie von starken Armen umfangen und nur diese verhinderten einen Augenblick später, dass sie ganz zusammen sackte.
„Jeanne!", hörte sie die erschrockene Stimme ihres Geliebten noch, bevor es um sie erst einmal mit einem „Es ist alles in Ordnung." dunkel wurde.Vincent nahm seine Frau auf die Arme und trug sie zunächst in den Schlafraum und legte sie auf's Bett und nachdem er sie von ihren Stiefeln, Handschuhen und der Kappe befreit hatte, deckte er sie sorgfältig zu. Erst dann machte er sich auf den Weg zu seinem Adoptivvater, um um Hilfe für seine Frau zu bitten.
Wie lange sie geschlafen hatte, wusste Jeanne nicht zu sagen, als sie erwachte und sich in einem der Betten in der Krankenkammer mit einem stattlichen Verband am Oberarm wieder fand. Neben ihrem Bett stand ein Sessel und auf dessen Lehne lag ein Mantel, der ihr sofort sagte, wer hier normalerweise saß. Jeanne lächelte leicht und musste nicht lange warten, bis Vincent zurück kehrte.
„Hallo, meine Schöne.", grüßte sie ihr Mann und schaute sie mit strahlenden Augen an „Wie fühlst du dich?"
„Schwach.", gab Jeanne ehrlich und ein wenig verlegen zu.
„Was kann ich tun, dass es dir wieder besser geht?", wollte Vincent darauf wissen und Jeanne blickte ihn nur mit einem eigenartigen Glitzern in den Augen an.
„Du meinst ... nein." Doch Jeanne nickte nur und meinte: „Doch, genau DAS."
Vincent überlegte und packte zunächst erst einmal einen der Riegel, die Jeanne sehr häufig aß aus und reichte ihn ihr. Dann füllte er Wasser in ein Glas und als sie den Riegel mit wenigen Bissen verzehrt hatte, gab er ihr das Glas und sie leerte es mit einem Zug.
„Bring mich zu Ja'a'nira", bat sie dann „und bleib dort bei mir."
„Und die Kinder?", fragte Vincent zurück.
Jeanne zuckte mit den Schultern und erklärte: „Entweder das und ich bin in ein paar Tagen wieder fit, wie du weißt, oder ich liege hier vielleicht wochenlang rum und bin kaum noch aktionsfähig."
Vincent dachte nach und nickte schließlich langsam. „Okay, ich werde alles in die Wege leiten und dich dann nach unten bringen."
„Danke.", erwiderte Jeanne schlicht. Sie hatte nicht die geringste Lust, hier wochenlang herum zu liegen.
Vincent griff in die Tasche seines Mantels und legte ihr noch eine reichlich bemessene Menge der Riegelchen auf's Nachtschränkchen, füllte ihr Glas auf und verließ sie dann und Jeanne griff sich eines der kleinen Dinger und verschlang es mit wenigen Bissen.Stunden später kehrte Vincent zurück und trug den kleinen Rucksack auf dem Rücken, in dem Jeanne ihre Riegelvorräte aufzubewahren pflegte.
Auf den fragenden Blick seiner Frau erklärte er: „Der Vorrat, den wir oben haben, ist fast aufgebraucht. Wir brauchen Nachschub."
Jeanne, die inzwischen in ihrem Bett saß, nickte nur.
Als Vincent ihr nun auch noch ihre Kleidung reichte, schwang sie die Beine aus dem Bett und begann sich anzuziehen.
Nach kurzer Zeit war auch sie reisebereit, doch statt loszugehen, trat Vincent an seine Frau heran und hob sie auf seine Arme.
„Hey! Was soll das?", quietschte Jeanne, schlag ihm jedoch die Arme um den Hals.
„Na, laufen lasse ich dich auf keinen Fall, dazu bist du viel zu schwach.", gab Vincent bekannt.
„Aber so kriegst du ja unterwegs nen Krampf in den Armen.", bemerkte Jeanne.
Langsam ließ Vincent Jeanne herunter. Sie hatte Recht, das wusste er.
„Weißt du was?", überlegte Jeanne nun laut „Ich glaube, ich hab da ne Idee."
„Und die wäre?", fragte Vincent leise.
„Gib mir mal den Rucksack, der ist doch leer und wiegt demzufolge so gut wie nichts."
Vincent nickte und reichte ihr das kleine Gepäckstück.
„Und jetzt dreh dich mal um und mach dich ein bisschen kleiner."
Vincent tat, wie es Jeanne vorgeschlagen hatte, denn er ahnte bereits, was sie vor hatte.
Geschickt und flink kletterte Jeanne dem Hünen auf den Rücken und schlang ihre Beine fest um seine Taille und ihre Arme schlang sie einen über seine eine Schulter und den anderen schon sie unter der anderen Achsel hindurch und verschränkte dann ihre Finger so, dass diese nicht so leicht auseinander rutschen konnten.
„So hast du die Hände frei und bekommst keinen Krampf.", bemerkte sie und Vincent spürte das Grinsen, das er nicht sehen konnte.
Behutsam richtete er sich auf und machte sich auf den Weg.
Solange seine Frau bei Bewusstsein war, war dies tatsächlich die optimale Möglichkeit, dass sie nicht laufen musste.***************************************************************
(2099 Wörter)
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Ways of Destiny - Wege des Schicksals
FantasyIn einem Tunnelsystem unter einer Großstadt an einer Küste lebt eine kleine Gemeinschaft, die für sich einen anderen Weg des Zusammenlebens geht, als die Gesellschaft an der Oberfläche. Vincent, Beschützer und einer der Führer dieser Gemeinschaft...