Als Tho'rha erwachte, spürte sie, dass Vincent noch immer tief und fest schlief.
Vorsichtig schlüpfte sie aus dem Bett, ließ ihre Fassade fallen und legte sich unter ihren Energiestrom und aktivierte ihn.
Wenig später war sie in tiefe Meditation versunken und konzentrierte sich auf die Aufnahme, der sie umströmenden Energie.
Vincent hatte, obwohl er im Tiefschlaf war, den Weggang seiner Frau aus dem Bett unbewusst bemerkt und begann nun zu träumen. Sein Schlaf wurde unruhiger und nach einiger Zeit erwachte auch er.
Er fühlte um sich und erspürte die Präsenz Jeannes in seiner unmittelbaren Nähe.
Langsam öffnete er die Augen und sah sich um, doch von Jeanne fehlte jede Spur. Ihr Kleid lag noch immer auf dem Stuhl neben dem seinen und auch in der Hygienezelle war es völlig still. Doch dann bemerkte er ein seltsames Leuchten in der Ecke des Raumes, in der die ganze Zeit ein eigenartiges Möbelstück gestanden hatte, dessen Zweck ihnen beiden bisher fremd gewesen war und auf diesem lag eine sanft in Grün und Gold leuchtende, mit rosa und blauen Linien durchzogene, ätherisch anmutende Gestalt, von der für ihn eindeutig die Emanationen seiner Frau ausgingen.
Langsam stand er auf und trat an das Möbel heran. Er betrachtete, die Gestalt, die in dem leuchtenden Funkenregen lag und offensichtlich nichts am Leib trug.
War das die natürliche Gestalt des Wesens, das seit fast drei Jahren seine Frau war? Er war fasziniert und betrachtete gebannt die Gestalt, die für ihn Schönheit in Reinform war. Langsam ging er, ohne den Blick von der Gestalt zu wenden, zuerst in die Knie und setzte sich dann mit untergeschlagenen Beinen neben das Möbel. Das Bild, das sich ihm bot, war wie ein Traum und Vincent bemerkte nicht, dass sein Geist ganz sacht wieder in den Schlummer glitt und seine Lider nach unten sanken.
Das sanfte Leuchten des Energiestromes schien sich zu erweitern und ihn mit einzuhüllen und sein Körper schien zu schweben in diesem Licht.
Bald kamen zu den Farben noch andere hinzu, zu Grün und Gold, leuchtendes Orange und Gelb und zu Violett und Blau strahlendes Rot. Vincent fühlte sich geborgen und sicher in diesen Farben und genoss die Leichtigkeit des Schwebens. Plötzlich öffnete sich unter ihm der Vorhang aus Farben und er sank langsam in eine traumhaft schöne Landschaft. Unter ihm befand sich eine Lichtung in einem unübersehbar riesigen Wald in den schönsten Grüntönen und zu dieser Lichtung sank er nun herab. Sonnenlicht streichelte sein dichtes, goldbraunes Fell und als er den Boden schon fast berührte, fühlte er etwas an seinem unteren Rücken und sah sich um und staunte. Seine Wirbelsäule endete nicht, wie ihm bekannt, sondern trug nun eine befellte Verlängerung, die in einer goldblonden, dicken Quaste endete und diese Verlängerung peitschte nun aufgeregt hin und her, denn beim Blick über seinen Rücken hatte Vincent bemerkt, dass er nicht einen Fetzen Kleidung am Leib trug.
Was war, wenn hier plötzlich Menschen aus dem Wald kamen und ihn so sahen?
Kaum spürte er Boden unter seinen Füßen, rannte er zum nächsten Busch und versuchte sich darin zu verbergen, keinen Moment zu früh, wie ihm klar wurde, als er über sich ein Rauschen, wie von tausend Vögeln vernahm.
Er kroch tiefer in die Sträucher und schaute nach oben. Dort sah er, wie sich ein riesiger Vogel langsam mit kräftigen Flügelschlägen dem Boden näherte, doch je näher der Vogel kam, desto unwirklicher wurde Vincent die Szene, denn es zeigte sich, dass das fliegende Wesen den Körper einer Frau hatte, die ein langes, helles Gewand trug, das selbst ihre Füße einhüllte.
Kurz bevor die Gestalt mit einem leichten Flattern den Boden berührte, griff sie nach ihrem Gewand und zog es ein wenig nach oben, worauf zierliche Füße in schimmernden Sandalen zum Vorschein kamen, die nun im Gras verschwanden. Die Gestalt hob ihr Gewand weiter an und befestigte es an ihrem Gürtel. Dann verschwanden die riesigen Schwingen und sie blickte sich um.
Als Vincent ihr Gesicht sah, blieb ihm fast das Herz stehen. Diese Frau sah aus, als wäre sie der eineiige Zwilling Jeannes. Geräuschvoll schnappte er nach Luft und erregte so die Aufmerksamkeit seines Gegenübers.
Die Fremde wandte sich ihm zu.
„Vincent, bitte zeig dich.", sagte sie laut.
Vincent erhob sich ein wenig, so dass sein Kopf über das Gebüsch ragte und sah sich die Fremde genauer an.
Die Fremde, die Jeanne zum Verwechseln ähnelte, legte den Kopf ein wenig schief und schien zu überlegen. Im nächsten Moment erschien neben Vincent auf dem Boden ein Häufchen Kleidung.
Der Hüne griff danach und bemerkte, dass es sich dabei wohl um den leichten und lockeren Anzug aus Tunika und Hose handelte, den Jeanne ihm gegeben hatte, als er sich von seinen schlimmen Verletzungen nach seiner Gefangenschaft in ihrem Schiff erholt hatte.
Schnell schlüpfte er in die Hose und zog sich das Hemd über den Kopf, bevor er sich ganz aufrichtete, nach dem Gürtel griff und auch diesen sorgfältig anlegte.
„Fühlst du dich so besser?"
Vincent nickte dankbar.
„Dann komm. Es wird bald Abend und Träumer sollten dann nicht mehr außerhalb des Camps im Wald herumwandern."
Vincent verließ das schützende Grün und trat zu der zierlichen Gestalt. „Warum?"
„Es ist gefährlich für Träumer, nachts im Wald herumzuwandern."
Vincent ging nun neben der kleinen Frau und blickte auf sie herab.
„Hast du eine Frage?"
„Ja. Tausende."
„Dann schieß los. Es gibt nur wenig, das ich dir nicht erzählen darf."
„Wer bist du und warum siehst du aus wie Jeanne?"
Die Wächterin grinste leicht. „Das war zu erwarten und ich entschuldige mich, dass ich mich nicht gleich gebührend vorgestellt habe.
Mein Name ist Giunnievere und ich sehe aus wie deine Frau, weil ich sie bin, beziehungsweise, sie ist ich, zumindest zum Teil."
Verwirrt blieb Vincent stehen und starrte die Fremde an.
„Wie...?"
„Dir das zu erklären müsste ich etwas weiter ausholen, also lass uns erst einmal zum Camp gehen. Dort habe ich ein Zelt, in dem wir ungestört reden können."
„Wie du meinst."
Sie setzten ihren Weg fort und schon bald sah Vincent im verblassenden Tageslicht ein Feuer flackern.
„Gibt es eine Feuerstelle in eurem Camp?"
„Ja, im Zentrum des Camps brennt jede Nacht ein Lagerfeuer, an dem sich die Träumer, die das wünschen, treffen."
„Die Träumer? Ist dies ein Traum?"
„Ja. Dein Körper sitzt noch immer neben dem Energiestrom deiner Frau und schläft."
„Und wie bin ich hierher gekommen?"
„Ich habe deinen schlafenden Geist hierher gerufen."
„Warum?"
„Weil ich dich kennen lernen wollte und weil ich dir einen Weg weisen wollte, wie du deine Frau jederzeit treffen kannst, auch wenn sie nach Hause zurück gekehrt ist."
Inzwischen hatte die Wächterin den Hünen außen um das Camp herumgeführt und nun sahen sie ihr Zelt, das sich von Stil und Farbe deutlich von den anderen Behausungen hier unterschied.
Sie trat an eine locker herab hängende Plane heran und hob sie an, gleichzeitig formte sie eine einladende Geste.
„Komm herein. Niemand betritt dieses Zelt, ohne herein gebeten worden zu sein. Wir sind also völlig ungestört."
Als sie beide im Inneren der Behausung standen, verschloss Cassandra sorgfältig die Plane.
„Nun kann uns auch von draußen niemand hören, egal wie laut es hier wird.", grinste sie, als sie sich Vincent wieder zuwandte und auf die kleine Sitzgruppe wies, die von Tho'rhas Besuch noch im Raum stand.
„Setz dich doch." Im nächsten Augenblick stand bei jedem Sessel wieder ein Kelch mit dem dunkelroten Nektar auf dem Tischchen.
Vincent betrachtete das Getränk leicht misstrauisch. „Was ist das?"
„Der Nektar der Götter.", grinste Cassandra „Zumindest nennen ihn die wenigen Träumer, die ihn kennen so. Wir Wächter nennen ihn einfach nur Nektar und er bildet unsere Nahrungsgrundlage."
„Du nanntest dich gerade Wächter. Was bewachst du?"
„Wir, die Wächter des Schlosses, bewachen nichts, wir beschützen. Zum Einen euch, die Träumer und zum anderen unsere Wohnstatt und die Residenz des Schöpfers, das Schloss in den Bergen."
„Und vor wem?"
„Vor den Dunklen und ihrem Herrscher, die tief unter der Oberfläche dieser Welt leben und sowohl euch, als auch uns bekämpfen."
„Warum?"
„Wir wissen es nicht, wie und warum der Kampf zwischen den Schöpfern entbrannte, doch euch bekämpfen sie, weil sie euch nicht hier haben möchten."
„Warum möchten sie uns nicht hier haben?
Ich kann nicht für die anderen Träumer sprechen, da ich diese nicht kenne, aber ich würde keinem etwas zuleide tun der mir nichts tut."
„Es geht nicht darum, dass sie Angst vor euch haben. Sie wollen diese Welt eben nur für sich haben."
„Ist diese Welt so besonders?"
„Ja. Sie ist ein geistiges Refugium für Wesen, die eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht haben."
„Diese Welt existiert also nur in unserer Phantasie?"
„Wenn du es so verstehen willst, ja. Diese Welt ist allein ein Produkt unserer und eurer Phantasie."
„Und wer hat sich dann eure Gegner ausgedacht?"
„Gute Frage. Wir wissen es nicht."
„Kommen viele Träumer hierher?"
„Ja, einige."
„Werde ich sie kennen lernen?"
„Vielleicht. Jedoch sicher nicht heute."
„Warum nicht?"
„Du sagtest, du hast tausende Fragen und auch hier vergeht die Zeit."
„Hmm, da magst du Recht haben."
Bei Fragen, Antworten und Gegenfragen verging die Zeit und die Kelche leerten sich zunehmend.
Nach für ihn nicht nachvollziehbarer Zeit fühlte sich Vincent immer müder und schließlich schlief er ein und verschwand aus dem Zelt.
Wenige Augenblicke später war das Zelt leer.
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Ways of Destiny - Wege des Schicksals
خيال (فانتازيا)In einem Tunnelsystem unter einer Großstadt an einer Küste lebt eine kleine Gemeinschaft, die für sich einen anderen Weg des Zusammenlebens geht, als die Gesellschaft an der Oberfläche. Vincent, Beschützer und einer der Führer dieser Gemeinschaft...