1. Kapitel: Sommerferien und große Pläne

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Es war Anfang Juli 1943. Während die meisten Jugendlichen, die trotz der täglichen Bedrohung durch Bombenangriffe in London zurückgelassen worden waren, sich in einem kleinen Park oder am Ufer der Themse tummelten und im Dunst der Mittagssonne die Sorgen über den Krieg ausschwitzten, saß ein fünfzehnjähriger Junge mit blasser Haut, die so stark im Kontrast zu den dunklen Augen und Haaren stand, dass sie zu leuchten schien, im dunklen Speisesaal des Waisenhauses. Er nutzte die Zeit, um mit aller Macht zu ignorieren, dass er hier war.

Er hasste es jede Sommerferien hier her nach Wools zurückkommen zu müssen. Aber der Schulleiter des Internats bestand darauf, dass die Sommerferien nicht in Hogwarts verbracht wurden. Hogwarts war die Schule, die der Junge, seitdem er 11 Jahre alt war, besuchte. Ein altes Schloss irgendwo in Schottland, in welchem Kinder und Jugendliche mit besonderen Fähigkeiten lernten mit diesen umzugehen und sie auszubauen. Während die Jungs aus seinem Schlafsaal hier im Waisenhaus glaubten, Tom würde aufgrund vergangener Grenzüberschreitungen jeden September eine Schule für besonders schwer erziehbare Jungen besuchen und ihm aus Angst vor Auseinandersetzungen, die meiste Zeit aus dem Weg gingen, wusste Tom, welches Glück er hatte, Hogwarts – die Schule für Hexerei und Zauberei – sein Zuhause nennen zu dürfen.

Tom durfte während der Ferien nicht zaubern, das war erst volljährigen Zauberern und Hexen mit 17 Jahren erlaubt. Dennoch hatte er ein paar Vorkehrungen getroffen, um die Zeit im Londoner Waisenhaus Wools möglichst produktiv zu nutzen. Der Junge hatte viele und große Pläne. Für den Anfang hatte er zwei Bücher vor sich auf der langen, leeren Essenstafel platziert. Das eine, sehr große und schwere Buch drohte durch die Menge an Seiten- und Buchstaben fast zu platzen. Auf dem Umschlag war das Wappen der Zauberschule eingeprägt und darunter stand in Goldlettern „Geschichte Hogwarts".

 
Das zweite Buch war verhältnismäßig klein und dünn. Es war in dunkles Leder gebunden, die Ecken des Umschlags waren in kleine Golddreiecke gefasst. Ansonsten wies es nur eine Besonderheit auf. Dem Buch fehlte es an jeglichen Buchstaben. Keine der Seiten war auch nur mit einem Wort beschrieben. Tom hatte das Buch im letzten Schuljahr von seinem Zaubertranklehrer Professor Slughorn als Anerkennung für seine besonderen Leistungen zum Geburtstag geschenkt bekommen und nutzte es seither, um seine Gedanken niederzuschreiben und zu sortieren. Auch wenn es vielleicht für Unwissende nicht so schien, das Buch quoll nur so über vor fantastischen Ideen und geniereichen Plänen. Allerdings sah Tom niemanden als würdig, um seine Gedanken zu teilen. Stattdessen hatte er sich im letzten Schuljahr damit beschäftigt das Buch so zu verhexen, dass die Tinte nicht auf den weißen Seiten trocknete, sondern aufgesaugt wurde und verschwand. Somit war das kleine Buch zum einzigen Vertrauten des jungen Zauberers geworden. 

Aktuell brütete er über einem Plan, wichtige politische Probleme der Zaubererwelt zu lösen. Tom wollte Hogwarts zu einer richtigen, reinen Zauberschule machen und die Mauern von Unwürdigen Schlammblütern (* Zauberer und Hexen, die von Muggeln abstammten) befreien. Dazu studierte er gewissenhaft Geschichte Hogwarts, um Hinweise darüber zu erhalten, wie die großen Zaubermeister in der Vergangenheit mit eben jenem Problem umgegangen waren. Und tatsächlich war Tom auch bereits fündig geworden. Anscheinend war diese Unannehmlichkeit bereits zur Gründung der Schule diskutiert worden. Einer der vier Schulgründer, Salazar Slytherin, hatte sich eben jenem Problem angenommen, war damals jedoch in seinem Bestreben von den anderen drei Schulgründern nicht ernst genommen worden. Nun sah sich der 15-jährige Tom in der Pflicht, das Erbe des großen Zauberers fortzuführen und dem Schloss und der Zauberergemeinschaft zum wahren Glanz zu verhelfen. Unklar war allerdings noch der Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Tom hatte ein paar Informationen aus Geschichte Hogwarts gefischt, die aber noch recht vage schienen und definitiv im Schuljahr selbst innerhalb der Mauern der Schule Tests und Konkretisierungen bedurften.

Ein großer, stämmiger Junge unterbrach Toms Grübeleien plump: „He, Riddle! Versteckst dich hier vor uns?"

Michael Stevens kam in den leeren Speisesaal getrottet und musterte Tom abschätzig. Tom zog verächtlich eine Augenbraue hoch und musterte den breitgebauten Michael von oben nach unten. Michael Stevens war mit 17 Jahren einer der ältesten Jungen im Waisenhaus. Seine tiefen Augenhöhlen und buschigen Augenbrauen ließen ihn wie einen dümmlichen Urmenschen wirken. „Was willst du Stevens?", zischte er genervt.

Der große Junge antwortete grunzend: „Sei doch nich' so unhöflich, Riddle. Hab'n bisschen Respekt vor den Älteren. Ich hab' bald Geburtstag, weißt?"

Tom zuckte mit den Schultern, als würde der Geburstag von Michael Stevens ihn nicht interessieren. Tatsächlich fieberte der blasse Junge dem Tag aber bereits entgegen, an dem Michael Stevens achtzehn werden würde und als Soldat im Militär aufgrund des andauernden Kriegs eingezogen wurde.
„Glückwunsch?", murmelte Tom.

Langsam bemerkte er die Wut, die in ihn hinein kroch. Er hätte große Lust den grobschlächtigen Idioten zu verzaubern, allerdings war ihm dieser Regelverstoß dem drohenden Rauswurf aus Hogwarts nicht wert. In den Sommerferien, außerhalb der Schule war es minderjährigen Zauberern untersagt, Magie zu nutzen.

Stevens hatte heute anscheinend besonders schlechte Laune und hatte sich Tom als Opfer für seine Sticheleien ausgesucht: „Wie wär's, Riddle, wenn du mir'n Ständchen zwitscherst?" „Wie wär's, wenn du dir einen Typen in deinem Alter suchst, den du mit deinem Charm beglückst?", Tom stand auf und war gerade dabei, seine Bücher unter den Arm zu klemmen, als Stevens mit der Faust ausholte und ihm einen festen Schlag in die Seite verpasste. Tom keuchte auf. Damit hatte er nicht gerechnet. Mit dem Schlag ließ auch Toms Wille sich zusammenzureißen nach. Auch wenn er selbst für einen fünfzehnjährigen eine gute Statur und Muskulatur hatte, war eine Schlägerei eigentlich unter seiner Würde. Aber die Wut in seinem Blut brodelte auf. Die Stelle, an der Stevens ihn mit der Faust getroffen hatte pochte immer stärker: „Stevens, weißt du nicht mehr, dass ich ein Internat besuche, weil ich so gefährlich bin?" Toms Augen blitzten rachedurstig auf. Stevens lachte laut: „Und hast du nich' mitbekomm'n, dass ich im letzten Februar für paar Wochen in Jugendknast war, he? Wegen Körperverletzung. Gebrochene Rippen und sowas. Würd gern deine hochnäsige Nase bisschen richten."

„Dreckiger Muggel!", zischte Tom.

Stevens verstand die Beleidung natürlich nicht: „Wie hast du mich genannt, Riddle?" Der schwergewichtige Michael Stevens holte zum zweiten Schlag aus. Während seine Fingerknöchel auf Tom Riddles perfekt geformten, hohen Wangenknochen trafen, rutschten die Bücher unter Toms Arm hervor und fielen auf den Boden. Untypisch schnell für den schwerfälligen Jungen, griff der triumphierende Stevens nach dem kleinen, leeren Buch und lachte: „Ist das dein Tagebuch, Riddle? Uh ist ja noch ganz leer. Keine glücklichen Erinnerungen, zum niederschreiben? Oder ist das etwa ein Geburtstaggeschenk für deinen alten Kumpel? Vielen Dank, Riddle! Wär nich' nötig gewes'n!" Stevens schlurfte mit dem Buch in seiner Hand davon. Tom blieb stöhnend zurück und tastete prüfend seinen Wangenknochen ab. Er schien zum glück nicht gebrochen, allerdings schwoll der Faustabdruck unter seinem Auge bereits an und wurde ungewöhnlich warm.

Tom war froh, dass er sich zusammengerissen hatte. Innerlich brodelte er vor Zorn. Aber er durfte sich nichts erlauben, das dazu führen könnte, dass er die Zauberschule nicht weiter besuchen dürfte.

Tom Riddle auf der Suche nach dem Erben von Slytherin (5. Schuljahr)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt