38. Kapitel: Abschied auf Zeit

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Die alte Bibliothekarin lächelte Tom zu, als er sich auf dem Weg zum Astronomieturm machte. Er war heute der einzige Schüler gewesen, den es hier her verschlagen hatte. Alle anderen hatten bereits die Ferien eingeläutet, warfen sich vor dem Schloss mit Schneebällen ab oder genossen Weihnachtspunsch in den Gemeinschaftsräumen.

Auf der schmalen Wendeltreppe, die zum Astronomieturm führte, verlangsamte der Schüler sein Tempo, als er den dunkelblonden Haarschopf von Lucas Lockhart erspähte. Zwei Sechstklässler pressten sich an Tom vorbei und er hörte einen Moment später, wie sie Lucas eine Begrüßung zuriefen. Tom verharrte auf der Stufe, um möglichst viel Abstand zu Lockhart zu gewinnen. Jemand prallte gegen seinen Rücken. Tom drehte sich genervt um. Es war Frank, der sich direkt entschuldigte und der Slytherin schluckte den Ärger schnell hinunter.

"Warum kann Galilei nicht heute die Stunde ausfallen lassen... alle anderen haben schon frei!", schnaubte Frank außer Atem, als sie das Klassenzimmer fast erreicht hatten. Tom zuckte gleichgültig mit den Schultern. Der Slytherin war etwas zu arrogant, um sich einzugestehen, dass auch er nicht mehr wirklich aufnahmefähig war. Der Atem des älteren Gryffindorschülers hallte leise in dem gewölbten Treppenhaus wieder, bevor sie die Schwelle zum Astronomieturm überschritten. Die hohen Fenster begrüßten die beiden Jungen mit ihrem atemberaubenden Blick auf den Nachthimmel. Über den Köpfen der Schüler schwebten die kleinen Nachbildungen von Planeten, die wie immer stoisch ihre Umlaufbahnen bestritten.

Tom fand einen Platz ganz hinten im Raum und wie die Planeten über ihren Köpfen, verflog auch die Stunde, bis die Klasse eilig um halb Zehn den Turm verließ. Tom blieb noch einen Moment sitzen, den Blick auf sein Notizbuch gerichtet. Die Dunkelheit des Turms umhüllte ihn, während Professor Galilei gedankenverloren die Lichter im Raum löschte und schließlich von außen die Tür zuzog. Den Jungen, der im Schatten, ganz hinten im Raum saß, hatte er vergessen, ebenso, wie den Schlüssel im Schloss herumzudrehen. Die Kälte des Dezemberabends durchdrang den Turm, und Tom spürte, wie sie sich langsam in seinen Knochen festsetzte.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, holte die in der Bibliothek verhexte Spiegelscherbe aus seiner Tasche und wickelte sie mangels einer besseren Möglichkeit in seinen grün gestreiften Slytherinschal ein. 

Die Zeiger auf der Uhr bewegten sich währenddessen langsam. Das Ticken der Uhr wirkte fast hypnotisch. Tom folgte dem Sekundenzeiger ungeduldig, bis das Ticken zu einem schweren, schleifenden Geräusch wurde. Ein kaum hörbares, weit entferntes "Komm" drang ebenso dumpf an sein Ohr. 

Pünktlich um zehn Uhr knarrte die Tür und riss Tom aus seinen Gedanken. Der Zeiger tickte wieder im Sekundentakt. 

Eine blonde Haarsträhne lugte durch den Spalt, dann folgte der ganze Schopf und das hübsche Mädchen trat herein. Ihre blauen Augen durchsuchten den dunklen Raum und blieben dann auf dem blassen Gesicht des Jungen ruhen. Ein kleines, vorsichtiges Lächeln legte sich auf ihre Lippen, aber ihre blauen Augen wirkten etwas erschöpft.

Statt in den Schatten zu Tom zu treten, blickte sie aus den großen gotischen Fensterbögen und folgte ihnen hinaus, dort wo der Turm nur durch ein dünnes Geländer vom Mondlicht getrennt wurde. Tom folgte dem Mädchen. Er trat zu Ava, die sich gegen die Brüstung lehnte. Seine Hand hielt den grünen Schal locker, in dem die Spiegelscherbe verborgen war. Das Gefühl des kalten Metallgeländers drückte gegen seine Finger, doch seine Aufmerksamkeit galt Ava. 

"Es ist so ungewöhnlich ruhig, wenn keiner mehr da ist", begann Ava, ihr Blick noch immer auf die Dunkelheit gerichtet. Tom hatte das ungute Gefühl, dass die Hexe nicht den leeren Klassenraum meinte.  Als sie sprach, klang ihre Stimme ernst, und es schien, als würde sie weit weg sein: "Es wird das erste Mal sein, dass ich länger dort bleibe... seit er gestorben ist. Ich soll sogar in seinem alten Zimmer übernachten."

Tom Riddle auf der Suche nach dem Erben von Slytherin (5. Schuljahr)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt