17. Kapitel: Familien und Stammbäume

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Es ist ein Glück, dass wir im Allgemeinen Genaueres nur von unseren Eltern, bestenfalls noch von unseren Großeltern wissen. Wäre uns auch von unseren entfernteren Ahnen so viel bekannt, dann gäbe es wohl keinen Charakterfehler und keine Schurkerei, die wir nicht mit unserer erblichen Belastung zu rechtfertigen suchten.

- Arthur Schnitzler


Nach dem Essen verabschiedete er sich von seinen Freunden. Oliver und Charles gingen zum Quidditchfeld um das Auswahltraining der anderen Mannschaften zu beobachten. Bevor Tom zur Bibliothek ging, machte er einen kleinen Umweg zum Tisch der Gryffindors. Er steuerte direkt auf Mathilda zu, die ihn böse anstarrte. Simon Creeve saß neben ihr. Tom begrüßte den Jungen mit einem Handschlag und fragte dann an beide gerichtet, ob sie Ava schon gesehen hätten. Simon zuckte mit den Schultern: "Nope. Hab bis grad eben noch geschlafen." Mathilda hingegen gab sich größte Mühe, Toms Frage zu ignorieren, was vermuten ließ, dass sie zumindest wusste, wo das Mädchen anzutreffen war. Theatralisch stand die rothaarige Hexe auf, ließ ihren noch halb gefüllten Teller einfach stehen und verließ die große Halle.

Simon zuckte entschuldigend mit den Schultern. Tom verabschiedete sich von dem Jungen und lief Mathilda hinterher. Im zweiten Stock hatte er sie endlich eingeholt: "He, warte doch kurz, Mathilda! Bitte!" 

Die Hexe zeigte sich gnädig und verlangsamte ihre Schritte: "Was gibt's, Riddle?" 

"Ich hab das Gefühl, dass du sauer bist und ich würd das gern mit dir klären. Ich komme mit weißer gehisster Flagge.", Tom hob beide Hände.

Die Hexe rümpfte die Nase: "Frag doch deine Slytherinfreunde."

"Was ist denn zwischen dir und den Slytherins passiert ist?", Tom vermied extra meine Freunde zu sagen.

Hätte Mathilda die Macht besessen, mit ihren Blicken zu töten, Tom wäre auf der Stelle tot umgefallen: "Charles Lestrange ist ein ganz dreckiger Hund! Mal ganz zu schweigen von Walburga Black, der hinterhältigen Schlange! Ich weiß echt nicht, wie man Zeit mit solchen Menschen verbringen kann!"

"Was ist denn passiert?", wiederholte Tom seine Frage.

"Die haben in der Eulerei meine Post abgefangen.", Mathilda verschränkte die Arme und lief rot an.

Tom verstand noch nicht das Ausmaß des Problems. Auch wenn das Missachten des Briefgeheimnisses nicht cool war, wunderte er sich, warum Mathildas Post von solchen Interesse für irgendjemanden sein könnte. Er versuchte aber die Wut des Gryffindormädchens ernst zu nehmen. Schließlich wollte er die Wogen glätten, statt sie weiter auf die Palme zu bringen: "Haben die auf einen bestimmten Brief gelauert?"

"Ja."

Tom schaute fragend, bis sein Blick die Hexe etwas erweicht hatte. Sie seufzte und begann zu erzählen: "Na gut, ich erzähl es dir, Riddle. Du solltest ja vielleicht auch vor deinen Freunden gewarnt sein... Du weißt ja, die meisten reinblütigen Familien bleiben gern unter sich. Den Stammbaum ja rein halten. Sehen das als ihre bescheuerte Pflicht an." Tom nickte, er hatte bereits etliche dieser Diskussionen in den letzten Jahren mitverfolgen dürfen. "Und deine Freunde sehen das jetzt wohl als ihre Aufgabe, genau das nicht nur selbst zu praktizieren sondern zu kontrollieren, dass auch alle anderen Reinblüter schön unter sich bleiben. Quasi ne kleine Blutspolizei." Tom wusste, dass Mathilda Prewett ebenfalls reinblütig war: "Haben die sich etwa herausgenommen, sich in deinen Beziehungsstatus einzumischen?", fragte Tom nach. Mathilda nickte grimmig: "In den Sommerferien hat meine Cousine zweiten Grades Hochzeit gefeiert. Walburga war auch da. Hat meinen Freund, Teddy, kennengelernt. Erfahren, dass er Muggel ist. Am ersten Schultag haben sie wohl einen Brief von Teddy abgefangen und sich das Recht herausgenommen mit meiner Eule eine Antwort zu schicken. Ich würde mit ihm Schluss machen wollen. Der Brief war wohl auch noch mit einem Pustel-Juck-Zauber verflucht. Jetzt will Teddy nichts mehr von mir wissen." Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen.

Auch wenn Tom insgeheim die Aktion seiner Freunde ganz unterhaltsam fand, zwang er sich dazu, Mathilda sein Mitleid zu bekunden. Wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er sie aber viel lieber beglückwünscht. Seine Freunde hatten der Hexe einen Gefallen getan, sie von diesem Muggel zu erlösen. Er dachte an seine schwache Mutter und den ehrenlosen, verfluchten Vater.

Am Ende des Gesprächs hatte Tom sein Ziel erreicht und Mathilda war etwas besser auf ihn zu sprechen. Ihr Misstrauen hatte sie jedoch immer noch nicht abgelegt und bei seiner Frage nach Ava zuckte sie auch nur mit den Schultern. Er vermutete, dass es Zeit brauchte, um das Vertrauen aufzubauen. Das konnte man nicht so einfach erzwingen.

Tom verabschiedete sich von Mathilda und ging zielstrebig weiter zur Bibliothek. Froh darüber, bereits am Vormittag so produktiv seine Pläne verfolgt zu haben. 

***

Zu Beginn des Schuljahrs war die Bibliothek kaum besucht und am ersten Samstag war sie leer. Schließlich gabs weder Hausaufgaben noch Prüfungen.  Tom ging geradewegs zur Abteilung für Geschichte der Zauberei. Gut gelaunt begann er Bücher über den Gründer seines Hauses aus den Regalen herauszugreifen. Schnell bildete sich ein großer Stapel. Die anfängliche Euphorie schwand als Tom feststellen musste, dass etliche Zaubererfamilien sich damit brüsteten von den Gründern der Häuser abzustammen. Nur bei Helga Huffelpuff war eine Blutlinie tatsächlich nachgewiesen worden. Alle anderen Stammbäume waren nicht belegt. Nichtsdestotrotz notierte sich Tom die Nachnamen der angeblichen Nachfahren von Slytherin in seinem Notizbuch. Beim Aufschreiben des siebten Namens hielt er inne. Gaunt. War der Name seiner Mutter nicht Gaunt gewesen? Merope Gaunt. Beim Gedanken an die ausgemerkelte Schwangere aus seinem Traum fröstelte es Tom. Auch wenn es Gaunts geben sollte, die noch lebten, würde er ungern mit ihnen in Kontakt treten. 

Nachdenklich schaute er aus dem großen Fenster der Bibliothek. Draußen legte sich die Sonne auf die Berge und Bäume. Viele Schüler tummelten sich in ihrem goldenen Licht auf den Wiesen und Pfaden des Schlossgeländes. Weit entfernt auf dem Quidditchfeld konnte er Ameisengroße Figuren auf Besen erkennen. Er beschloss die Bibliothek zu verlassen und sich irgendwo seinen Platz in der Sonne zu suchen.

Tom räumte die Bücher mit einem Schwenk seines Zauberstabs in die umliegenden Regale zurück. Die vergilbten Seiten flatterten wie Flügel. Die Bücher waren schwerfälligen Vögel die in ihre sicheren Nester zurückflogen. Verkrochen sich in der strengen Alphabetisierung zwischen ihres Gleichen.

Er beneidete die Bücher um ihre klare Kategorisierung nach Genre, Inhalten und alphabetischer Ordnung. Wo würde man das mit seinen Gedanken gefüllte Notizbuch hier in der Bibliothek einsortieren? Wo gehörte er hin? Die ständige Konfrontation mit seiner Herkunft, den Stammbäumen seiner Mitschüler und die nun anschließende Suche nach dem Erben von Slytherin hatten ihm verdeutlicht, dass er irgendwo dazwischen getrieben hin und her flatterte und keinen Platz zur Rast fand.  Er beneidete seine Freunde aus Slytherin. Wie die flatternden Bücher suchten sie sich auf den Ästen ihrer blutreinen Stammbäume einen Platz in der Zauberergesellschaft. Fügte sich ein. Konnten im Anbetracht ihrer stolzen Herkunft die Augen vor der Zukunft verschließen.


Tom Riddle auf der Suche nach dem Erben von Slytherin (5. Schuljahr)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt