Im August hatte Tom den siebzehnjährigen Michael Stevens so weit, dass der rücksichtslose Riese ganz klein und in sich zusammengesunken war. Er wirkte apartisch, wenn jemand ihn ansprach. Am Vortag hatte Tom eine gelöcherte, gammlige Scheibe Käse aufgetrieben und als Geschenk auf dem Bett von Stevens hinterlassen. Tom hatte im Vorbeigehen gehört, wie ein paar von Stevens Zimmergenossen sich darüber ausgetauscht hatten, dass der Junge sich in der Nacht geweigert hatte in seinem Bett zu schlafen. Dementsprechend zerknautsch sah er heute auch aus.
Tom beobachtete Stevens beim Abendbrot mit Genugtuung. Nach dem Essen verließen die Meisten Waisen zügig den Speisesaal und verzogen sich in ihre Schlafsäle oder den Hinterhof, um noch schnell eine Zigarette zu rauchen. Tom blieb, den Blick auf Stevens geheftet, sitzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, als sich der wuchtige Jugendliche immer noch nicht bewegt hatte, erhob Tom sich langsam von seinem Platz und schlenderte selbstbewusst auf Stevens zu. „Stevens, du hast noch etwas, das mir gehört.", zischte er vor seinem Opfer angekommen. Tom blickte auf den Jungen herab. Stevens zuckte unaufmerksam mit den Schultern. Tom lehnte sich nach vorn: „Gib mir mein Buch wieder!" Keine Reaktion. Innerlich brodelte Tom vor Wut. Dieser fehlende Respekt und die Gleichgültigkeit versetzten seinem Ego einen großen Tritt. „Wag es nicht, mich zu ignorieren, Stevens!" Jetzt grunzte Toms Gegenüber: „Welches Buch meinst'n. Doch nicht dieses schäbige Notizbuch. Das hab ich ins Klo gesteckt." Toms Geduldsfaden riss. Stevens wollte einfach nicht verstehen, dass man Tom Riddle Respekt zu zollen hatte. Während der größere der beiden Jungen gleichgültig in die Luft starrte, kochte der fünfzehnjährige Tom innerlich. All die Wochen subtiler Quälereien hatten nicht die Wirkung erzielt, die Tom sich gewünscht hatte. Aber Toms Timing für einen Wutausbruch war nicht das beste. Es war nicht Tom der explodierte, als laute Sirenen über die Mauern des Waisenhauses hinwegdröhnten. Und es war auch nicht Tom, der einen kurzen Moment später die Erde zum beben brachte. Eine Bombe war von feindlichen Soldaten wenige Häuserblocks weiter abgeworfen worden. Ohrenbetäubender Lärm machte die Warnsierenen überflüssig. Panik brach aus. Mrs Hawthorn gelang es durch das Chaos hindurch die meisten ihrer Schützlinge zusammenzutrommeln und in den nahegelegenen Schutzkeller zu bringen. Die beiden Jungs im Speisesaal hatte die alte Dame allerdings vergessen.
Während Stevens in Schockstarre verfallen war, brannten Toms Nerven durch. Er starrte dem grobschlechtigen Waisenjungen direkt in die Augen und es platze aus ihm heraus: „Du wertloser Muggel, du dreckiger Idiot! Wie kannst du meinen Besitz so respektlos behandeln! Hol mein Buch sofort wieder!" Stevens Blick wurde milchig, als hätte jemand eine beschlagene Glasscheibe vor sein Gesicht gehalten. Dann stand Stevens auf und tapste zu den Toilettenräumen. Er schlurfte an allen Kabinen vorbei, bis er an die letzte Klokabine angekommen war und die Tür öffnete. Vor ihnen befand sich eine verstopfte Toilette, an deren Rändern das Wasser übergelaufen war. Tom war etwas erleichtert, als er bemerkte, dass es sich zum Glück nicht um Unrat, sondern tatsächlich nur Wasser handelte.
„Los! Hol es raus!", befahl Tom. Wie in Trance griff Stevens in die Toilette. Es dauerte ein paar Minuten, bis der Junge tatsächlich das in Leder gebundene Büchlein in den Händen hielt. Das Papier war zwar aufgeweicht, aber das Buch war noch in einem erstaunlich guten Zustand. Mit leerem Blick streckte Stevens Tom das Buch entgegen. Tom riss Stevens das Buch aus den Händen. Wie gern hätte er jetzt einen Zauber angewandt um die Sammlung seiner wertvollen Gedanken zu trocknen.
Stattdessen zischte er: „Wie kannst du es nur wagen. Wie kannst du nur meinen Besitz in dieses dreckige Klo stecken!"
Stevens blickte Tom emotionslos an. Seine Stimme klang dumpf als er sagte: „Wollte es loswerden. Seit ich dieses Ding in meinem Besitz hatte kann ich nicht mehr schlafen und werde von meinen Ängsten verfolgt." Stevens stand so da und bewegte sich nicht. Als erneut eine Erschütterung zu spüren war und ein lauter Knall die Luft Londons in Rauch tränkte, zeigte Stevens immer noch keine Reaktion.
Tom gestand sich fasziniert ein, dass mit seinem Gegenüber etwas nicht zu stimmen schien. Michael Stevens wirkte wie eine leere, teilnahmslose Hülle, die sich Toms Befehlen ohne Gegenwehr beugte. Die Reaktion erinnerte Tom an etwas, das er vor einiger Zeit in einem Buch über dunkle Magie gelesen hatte. Es gab einen Fluch, der dem Zauberer die absolute Kontrolle über sein Opfer gab. Der Imperiusfluch war einer der drei unverzeihlichen Flüche, für die Zauberer ins Zauberergefängnis Askaban gesteckt wurden. Die (fehlende) Reaktion, die Stevens hier an den Tag legte war sehr ähnlich zu dem was Tom in dem Buch über den Imperiusflucht gelesen hatte. Tom war neugierig. Was war der Auslöser von Stevens Verhalten? War er wirklich verflucht? Ein willenloser Zombie, der sich allen Befehlen ausnahmslos beugte?
Tom entschied seine Theorie zu testen: „He, Stevens, setz dich in diese dreckige Kabine und verlasse sie erst am nächsten Morgen!" Stevens nickte, setzte sich auf die Klobrille und starrte auf den Boden. Tom ging einen Schritt zurück und knallte die Kabinentür vor Stevens Nase zu. Kein Mensch, der bei allen Sinnen war, würde die ganze Nacht hier ausharren. Schon gar nicht bei Bombenalarm. Als Tom Riddle den Waschraum verließ erinnerte er sich an Michael Stevens Platzangst und grinste noch zufriedener. Er war froh sein Buch endlich wieder in seinen Händen zu halten. Im Schlafsaal legte er es auf den Heizkörper, damit die durchweichten Seiten trocknen konnten.
Tom genoss die Macht, die er heute Abend gespürt hatte und schlief beseelt ein, während Stevens im Jungsklo kauerte und die restlichen Waisen mit der Heimleiterin im Schutzkeller ausharrten.
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Tom Riddle auf der Suche nach dem Erben von Slytherin (5. Schuljahr)
FantasyTom Riddles Schulzeit (5. Schuljahr, Kanon) II Auf der Suche nach seiner Herkunft ahnt er noch nicht, dass eine todbringende Riesenschlange in der Schule als sein Erbe auf ihn wartet. Doch Ava Starling, eine Ravenclawschülerin, weckt fast so etwas w...