„Er sagt, er ist gekommen, um mit Robin Hood, dem König der Diebe zu sprechen", meinten die beiden Banditen, welche Guy von Gisborne eskortiert hatten und Guy bestätigte diese Worte mit einem kurzen Nicken.
„Dass du dich hierher wagst!", sofort war Scarlet auf dem Weg in Guys Richtung.
„Wartet!"
Robins Stimme ließ alle innehalten. Langsam stand er auf, klopfte sich den Staub aus den Gewändern und schritt langsam auf den Neuankömmling zu.
„Scarlet hat nicht Unrecht. Es war todesmutig und dumm, hierherzukommen. Um uns festzunehmen, wäre ein Überraschungsangriff viel klüger - so wie im Wald. Der feine Herr Ritter muss einen verdammt guten Grund haben, hier alleine aufzutauchen. Du bist doch alleine hier, oder Gisborne? Denn bei Gott ich schwöre dir, wenn deine Männer im Unterholz warten, wird es dieses Mal ausgesprochen blutig werden! Wölfe, die man in die Enge treibt, beissen fest und lassen nicht los. Nicht wahr, Männer?" Von jedem einzelnen der Banditen erklang ein kurzer knurrender Laut, der ein oder andere heulte sogar wie ein Wolf zur auf.
Robin sah, dass Guy unbewaffnet und eindeutig eingeschüchtert war. Im Lügen und Vortäuschen, das wusste er, war Guy hundsmieserabel. Nein, Guy hatte sich das gut überlegt und Robin ahnte, wieso er hier wahr. Er wusste es, seit er mit einem schrecklichen Gefühl im Magen den Blick von Marian abgewandt hatte. „Was bringt dich ins Lager der Geächteten, Sir Guy von Gisborne?"
Der Sohn des Sheriffs trat näher und ließ den Blick wachsam von einem zum anderen gleiten. In das Lager der Banditen zu gehen, war wirklich todesmutig. Ausnahmsweise hatte Robin mit allem recht, was er sagte - und Guy hätte alles andere vorgezogen, hätte er denn eine Wahl gehabt. Doch die gab es nicht. Nicht für ihn. Er öffnete und schloss die Finger, ballte sie zur Faust und reckte in einem trügerischen Schein von Selbstsicherheit unter all den dreckigen Mördern und Dieben das Kinn.
„Marian ist des Hochverrats an Krone und Land angeklagt, weil sie euch zur Flucht verholfen und den Sheriff bedroht hat", ließ er die Banditen wissen.
„Und wenn schon! Ihr feiner Vater, der Earl, wird sie schon mit genügend Geld freikaufen, das sie immerhin aus unseren Taschen gezogen haben!", meinte Will Scarlet bissig und Robin warf ihm einen ernsten Blick zu, der ihn sofort zum Schweigen brachte.
„Wie ich bereits sagte: Ihr irrt euch", wiederholte Guy an dieser Stelle. „Selbst der Earl oder ich können Lady Marian in diesem Fall nicht mehr helfen. Und auch der Sheriff nicht. Es gibt zu viele Zeugen des Vorfalls. Er muss ein Exempel an ihr statuieren. Und er wird sie nach dem Gesetz richten."
Robins Magen drehte sich. Er öffnete den Mund, als plötzlich John neben ihm aufsprang und einen Schritt auf Guy zuschritt. Dessen Hand glitt sofort zur Seite, wo er noch sein Schwert vermutete, welches er jedoch, in guter Absicht, in der Burg gelassen hatte.
John jedoch blieb vor dem Mann stehen. Er musterte den Sohn des Sheriffs eingehend und langsam von oben bis unten, dann bohrten sich seine Augen in die Guys. Er erkannte darin Sorge um die Frau, die ihnen geholfen und sein Leben gerettet hatte. „Ihr liebt sie und wollt sie retten", stellte er in volltönender Stimme fest. Da Robin in seinem Rücken stand, bemerkte Guy nicht, wie jener verärgert die Zähne bei diesen Worten bleckte.
„Wie können wir ihr helfen?", fragte der Riese dann schließlich.
Die Frage sackte eine Sekunde, dann fielen die Banditen aus allen Wolken und die Ruhe, für welche Robin eben gesorgt hatte, brach wieder zusammen.
„Warum sollten WIR dem Adelstöchterchen helfen?", fragte der Erste.
„Ja, wir haben sie nicht darum gebeten, den Sheriff zu bedrohen!", wandte ein anderer ein.
„Erschießen hätte sie ihn sollen!", maulte ein Dritter.
Da wandte sich John empört den anderen zu. „Weil wir Diebe zusammenhalten", meinte er ernst und sah von einem zum anderen. Er erkannte Verwunderung in den Gesichtern der Männer und zum ersten Mal seit Langem, empfand John den süßen Geschmack von Überlegenheit. Diesmal jedoch schmeckte er bittersüß.
„Die junge Lady hat sich, seit sie zurückgekehrt ist, stets für das Volk ausgesprochen. Lord und Lady De Burgh verteilten oft die Reste der Feste an die Armen oder gaben Spenden aus. Sogar Korn aus ihren eigenen Speichern zur Aussaat." John warf einen kurzen Blick zu Guy, dann verschränkte er die Arme vor der Brust. „Robin und die Lady haben sogar den kleinen Samuel Hughs aus dem Kerker befreit. Und nun hat die Lady ihr Leben für uns riskiert - für den Abschaum, den wir in den Augen andere Adliger sind!", meinte John. „Wollt ihr diese Taten wirklich mit Gleichgültigkeit verraten?", fragte er und sah vorwurfsvoll in die Runde.
„John hat recht", mischte sich jetzt auch Alan-A-Dale ein. „Wie können wir dem Adel Verrat und Egoismus vorwerfen, wenn wir die im Stich lassen, die sich für uns einsetzen?"
Robin konnte es nicht fassen. Zu hören, wie sich praktisch Fremde und noch dazu irgendwelche Straßenbanditen für Marian einsetzten... vielleicht war die Hoffnung, dass das Volk Englands zusammenstand, wenn es um das Richtige ging, tatsächlich nicht vergeblich. So wandte auch er sich Will Scarlet zu und versuchte an dessen Vernunft zu appellieren. „Lady Marians Vater, der Earl, hat das Volk schon seit einer Weile unterstützt, Scarlet. Nicht alle Adligen wollen den Menschen nur Schlechtes."
„Robin hat recht, Will." John suchte den Blick seines Freundes und lächelte bittend. „Sie hat uns die Flucht ermöglicht. Zweimal. Ohne Maid Marian wäre vermutlich keiner von uns mehr am Leben."
Da stieß Scarlet ein Stöhnen aus, fuhr sich über das Gesicht und rieb sich den Bart am Kinn. Man sah, dass es ihm nicht leichtfiel, über seinen Schatten zu springen aber ...
„Wenn sogar der Sohn des Sheriffs sich für das Weib mit den Geächteten abgibt", brummte er und die umliegenden Gesichter hellten sich auf.
Robin trat an Will heran, klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich dann wieder an Guy. Ihm widerstrebte es, diesem Mann zu vertrauen oder sich mit ihm einzulassen. Aber umgekehrt war es sicher ebenso. Manchmal jedoch konnten Feinde ein gemeinsames Ziel finden, das ihnen wichtiger war, als alte Fehden. Und beide wollten eines mehr als alles andere: Marian nicht sterben zu sehen. Wie es schien, war dies für Guy sogar wichtig genug, um sich mit denen einzulassen, die sein Vater so inständig jagte... und die Differenzen zu vergessen, die zwischen ihnen standen. Vielleicht, ja, nur vielleicht war diese Freundschaft nicht vergebens.
„Also Gisborne. Was ist der Plan?"
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Die Königin von Pfeil & Bogen
Historical Fiction[WATTYS 2023-WINNER/Fesselndste Welt] ** Marian, stehlende Adelstochter mit großem Herzen trifft auf Robin Hood, verwegener Dieb mit gewaltigem Ego. Werden sie alten Schmerz, Vorurteile und schließlich den grausamen Sheriff von Nottingham überwinden...