Wie aus dem Nichts erschien ein Schatten im Rücken des Riesen John. Die Klinge blitzte im Sonnenlicht und Marian spürte ein kaltes Kribbeln im Nacken.
„Vorsicht!" Der Bogen in ihren Händen bog sich lautlos, als sie die Sehne zurückzog. Ihr Pfeil zischte an Ast und Blättern vorbei, ehe er sich zielgenau mit einem dumpfen Geräusch direkt in die Hand des Soldaten bohrte. Ein schmerzverzerrter Schrei entwich dem Mann, dem die Waffe entglitt und klirrend zu Boden fiel.
Der Hüne fuhr herum, sich der Gefahr nun gewahr und sein Blick schien erahnen zu wollen, woher das rettende Geschoss gekommen war. Nur für einen kurzen Augenblick begegnete sich ihr Blick - und obwohl sie kein Wort sprachen, konnte Marian eine stille Dankbarkeit in den Zügen des Mannes erkennen. Die Anspannung um seine Lippen wich für einen Moment, entließ die kantige Härte aus seinem Gesicht und offenbarte einen kurzen Blick auf den Mann darunter. Nie hatte Marian ein ehrliches Lächeln gesehen.
„Los beweg dich schon!", zischte es neben ihm und mit einem zustimmenden Brummen schlug sich der Mann eilig ins Unterholz und verschwand aus Marians Blickfeld.
Ein Zischen war es, das ihre Sinne Alarm schlagen ließ. Instinktiv zuckte ihr Körper zusammen, während sie den Kopf drehte. Ein Pfeil schoss wie ein Schatten an ihrem Gesicht vorbei, prallte gegen den Stamm und ließ Holz und Rinde splittern. Durch ihren Ruf war ihre Position offenkundig preisgegeben und der Schütze der Garde hatte seine Gelegenheit nicht verstreichen lassen, sie unvorbereitet anzugreifen. Bereits jetzt legte er den nächsten Pfeil nach, der kurz darauf in ihre Richtung flog.
Keuchend zog Marian die Luft in die Lungen, machte aus Reflex einen Schritt zur Seite, um näher an den schützenden Stamm zu treten und büßte damit ihre Trittsicherheit ein. Alles ging so schnell, dass ihr Verstand hinterher stolperte: Ihr Stiefel rutschte auf dem Ast ab und Marian verlor den Halt. Sie kippte nach hinten und stürzte in die Tiefe.
Marian riss die Augen auf. Sie versuchte noch nach dem Seil zu greifen, mit dem sie die Eiche erklommen hatte, doch innerhalb eines Sekundenbruchteils war es bereits außer Reichweite und sie fasste ins Leere. In ihrer Kehle bahnte sich ein schriller Aufschrei den Weg nach oben und wollte über ihre Lippen springen. Da prallte sie auf den ersten Ast und die Wucht presste ihr alle Luft aus den Lungen.
Die Wucht des Aufschlags drehte sie vorn über, während sie geistesgegenwärtig die Arme vor das Gesicht zog und mehr oder weniger versuchte, ihren Kopf zu schützen. Gute vier Meter stürzte sie ungebremst in die Tiefe und als ihr Körper auf dem harten Waldboden aufschlug, verschwammen vor ihren Augen grüne und braune Flecken miteinander zu einem übermächtigen Schwarz. Übelkeit und Schwindel kämpften um die Vorherrschaft, während ihr Geist gleich einem herunter schwebenden Blatt hinterher trudelte.
Es dauerte wertvolle Sekunden, die sich für sie wie ewige Minuten anfühlten, bis sie langsam begriff, was geschehen war. Neben ihr raschelte es, als ihr Bogen klappernd mit Zweigen und Blättern heruntersegelte und unweit liegen blieb.
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Die Königin von Pfeil & Bogen
Historical Fiction[WATTYS 2023-WINNER/Fesselndste Welt] ** Marian, stehlende Adelstochter mit großem Herzen trifft auf Robin Hood, verwegener Dieb mit gewaltigem Ego. Werden sie alten Schmerz, Vorurteile und schließlich den grausamen Sheriff von Nottingham überwinden...