33. Wie ein Idiot

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Louis hatte den ganzen Tag über keinen klaren Gedanken mehr fassen können.

Stundenlang hatte die Nervosität seine Bauchgegend gekitzelt – allerdings nicht auf die gute Art und Weise.

Er konnte sich stellenweise nicht mehr an den Rest der Übung erinnern, als er sich wenige Stunden später schnellen Schrittes auf den Weg zur Krankenstation machte.

Er musste Harry sehen und mit ihm sprechen.

Es gab gar keine andere Möglichkeit.

Sein Gedankenkarussell würde ihn niemals in Frieden lassen.

Als er sich zu seinem Freund durchgefragt hatte, klopfte er zögerlich an die Tür.

Als Harry's Stimme an sein Ohr drang, atmete er erleichtert aus.

Im nächsten Moment allerdings fiel ihm die Traurigkeit in dessen Gesicht auf und die Erschöpfung, die er kaum noch vor ihm verbergen konnte.

Louis kam langsam näher und ließ sich auf dem Rand seines Bettes näher.

Anscheinend hatte man ihm einige starke Beruhigungsmittel verabreicht, denn er reagierte kaum auf die Berührung von Louis' Hand auf der Seinen.

Allgemein schienen seine Reaktionen sehr verlangsamt zu sein.

Louis wunderte sich darüber, wie kalt seine Fingerspitzen waren.

„Wie geht es dir?", fragte er also vorsichtig.

Harry schien einen Moment lang nachzudenken, bevor er antwortete.

Schließlich zuckte er die Schultern.

Die Beruhigungsmittel nahmen ihm die schrecklichen Spitzen der immer wiederkehrenden Panik und erlösten ihn so vom Schlimmsten.

Er wich Louis' Blick aus. „Es geht schon", antwortete er. „Denke ich."

Louis ließ entmutigt die Schultern hängen und spürte, wie das schlechte Gewissen immer mehr Besitz von ihm ergriff.

„Es tut mir leid", presste er schließlich hervor. „Ich habe mich verhalten wie ein Idiot. Ich wollte dich nicht verletzen."

Harry brauchte eine Weile, bis er Louis' Worten wirklich folgen konnte.

Dann sah er ihn verwirrt an. „Warum hast du es dann getan?"

Louis senkte seinen Blick. Er konnte ihm diese Frage nicht verübeln, aber die ehrliche Antwort darauf hätte er selbst gern gewusst.

„Ich liebe dich", beteuerte Louis. „Daran hat sich nichts geändert. Ich habe den Abstand gebraucht, weil ... Weil es mir selbst nicht so gut ging."

Harry zog verwundert die Augenbrauen zusammen. „Was war denn los?"

Louis zuckte die Schultern. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht", antwortete er wahrheitsgemäß. „Und dann dieser ständig drohende Krieg mit Japan..."

Ein tiefes Seufzen drängte sich aus Harry's Brust. „Aber das hättest du mir doch sagen können..."

„Ich weiß", gab Louis zurück. „Aber ich wollte dir nicht noch mehr Last aufbinden, als du ohnehin schon zu tragen hast."

Einen Moment lang spiegelte sich Enttäuschung in Harry's Blick. „Du weißt, dass das völliger Blödsinn ist."

„Ich wollte dich beschützen", entgegnete Louis – was noch nicht einmal gelogen war.

All seine Handlungen in den letzten Wochen hatten nur darauf abgezielt, Harry zu schützen. Und genau aus diesem Grund erwähnte er auch jetzt mit keinem Wort die Akten, die er aus dem Archiv gestohlen hatte.

Noch nicht.

„Ich kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, was heute Morgen eigentlich passiert ist", gestand Harry plötzlich.

Louis seufzte und streich sanft über seinen Handrücken.

„Das kannst du auch nicht wissen", antwortete er. „Du warst bewusstlos."

„Aber warum..."

„Harry", unterbrach Louis ihn vorsichtig. „Du hast tagelang nichts gegessen, kaum geschlafen und dann hattest du auch noch diese schwere Panikattacke..."

Harry konnte spüren, wie sein Unterbewusstsein Feuer fing.

Er dachte an Johnson's Worte, nachdem er auf der Krankenstation wieder zu sich gekommen war.

„Johnson meinte, wenn ich mich nicht innerhalb der nächsten Tage beim Schiffsarzt melde, muss er mich versetzen, weil ich so für die Marine nicht länger tragbar bin."

Louis riss entsetzt die Augen auf. „Wie bitte?"

Harry nickte.

Er konnte es ja auch irgendwie verstehen – schließlich hatte in den letzten Monaten wirklich überhaupt nichts daran erinnert, dass er einmal der beste Schwimmer dieser Einheit gewesen war.

Oder daran, dass er überhaupt einmal hatte schwimmen können.

„Wirst du gehen?", hakte Louis nach einer Weile nach.

Harry seufzte. „Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben."

Obwohl Louis es nicht gern zugab, konnte er die Freude in seinem Inneren spüren, die diese Aussage auslöste.

Endlich.

Auch, wenn Harry diese Entscheidung nur unter Zwang und unfreiwillig getroffen hatte – er würde mit seinen Problemen endlich zu einem Arzt gehen, wo ihm professionell geholfen werden konnte.

Das war das Wichtigste an der ganzen Sache.

Ein Lächeln umspielte Louis' Lippen. „Es tut mir leid", sagte er. „Ich hätte früher mit dir reden müssen."

Obwohl er sich darüber im Klaren war, dass er ihm trotz dieser Aussage noch immer entscheidende Tatsachen verheimlichte, umspielte Harry's Lippen ein erleichtertes Lächeln.

Er schien froh zu sein, Louis wieder an seiner Seite zu haben.

Dieses Mal war er sich sicher, dass sie die gleichen Fehler nicht noch einmal machen würden.

„Jetzt wissen wir ja, was wir machen müssen."
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Meine Lieben,
einen wunderschönen Samstagabend wünsche ich euch.🤍
An dieser Stelle wollte ich euch mal ein riesengroßes DANKESCHÖN aussprechen. Für's Lesen, Voten, Kommentieren - Danke an jeden einzelnen.🤍

All the love,
Helena xx

Pearl HarborWo Geschichten leben. Entdecke jetzt