40. Nicht loslassen

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Die Männer sahen sich alarmiert in die Augen.

Aus der entgegengesetzten Richtung kamen ihnen Matrosen und andere Marinesoldaten entgegen, die so stark verbrannt waren, dass sie sie nur noch an ihren Stimmen erkennen konnten.

Harry schluckte.

Er wusste noch im gleichen Augenblick, dass er diese Bilder nie wieder vergessen würde.

Er spürte, wie die Panik in ihm wieder stärker wurde. Beinahe so stark, dass sie ihm zusammen mit der Hitze des Feuers den Atem nahm.

Doch noch eine viel größere Angst unterdrückte eine weitere Panikattacke.

Die Angst, bei lebendigem Leibe zu verbrennen, sollten sie nicht augenblicklich eine Lösung finden.

Mit dröhnenden Motoren flogen die Kampfflugzeuge über Pearl Harbor und beschossen unermüdlich die Kampfschiffe, die wie auf dem Servierteller alle nebeneinander aufgereiht im Hafenbett lagen.

Leichte Beute.

Harry kniff die Augen zusammen und blickte nach oben.

Er konnte sie genau sehen.

Die aufgehende Sonne auf den Flugzeugen.

Noch Jahre später erinnerte er sich an den Gedanken, wie seltsam klein sie ihm vorkamen im Vergleich zu der riesigen Hölle, die sie angerichtet hatten.

Er legte seine Hände auf die Reling, doch er zog sie sofort zurück.

Das Metall hatte sich durch das Feuer so stark erhitzt, dass es die Innenseite seiner Hände innerhalb einer Sekunde verbrannte.

Ein erstickter Schrei drängte sich aus seiner Brust, als er auf seine Handflächen blickte. Die Haut ließ sich von ihnen abziehen wie ein Handschuh, und darunter war alles wund.

„Scheiße", fluchte er und versuchte reflexartig, sich die Hände an der Hose abzuwischen – und prompt fuhr eine neue Schmerzwelle durch seinen Körper.

Er konnte sie spüren. Von den Haarspitzen bis in die Beine.

Liam sah seinen Freund einen Moment lang besorgt an. „So wirst du nicht mehr schießen können."

Harry hörte die Worte seines Freundes in dem tosenden Lärm beinahe nicht.

Vor ihnen tobte ein Inferno, das das genaue Gegenteil von dem darstellte, was sie sonst in der paradiesischen Atmosphäre von Pearl Harbor erlebt hatten.

Innerhalb weniger Minuten war das Paradies zur Hölle geworden.

Jede Sekunde bestand nur noch aus Angst.

Aus einer lähmenden Angst, die gleichzeitig dazu aufrief, sich möglichst schnell fortzubewegen, um das sinkende Schiff zu verlassen.

Harry rechnete jeden Moment damit, von einer Kugel getroffen zu werden.

In dem Chaos, das an Bord herrschte, schaffte es niemand, einen geordneten Ablauf aufzustellen.

Niemand wusste, was zu tun war.

Wie auch?

Der Angriff kam aus dem Nichts.

Aus dem absoluten, pechschwarzen Nichts.

„Wir werden es nicht zu unserer Gefechtsstation schaffen", presste Niall hervor, der sich den noch immer stark schmerzenden Bauch hielt. „Wir müssen hier weg, und zwar so schnell wie nur irgendwie möglich."

„Aber wie können doch nicht einfach abhauen", entgegnete Louis und deutete demonstrativ hinter sich. „Wir müssen diese Bastarde vom Himmel schießen."

„Wie willst du es denn zu den Geschütztürmen schaffen?", schrie Niall über den Lärm hinweg. „Seit wann können wir durch Feuer gehen?"

Die Männer duckten sich vor einer weiteren Welle Kampfjets, die nun noch tiefer zu fliegen schienen.

Harry wusste nicht, ob dem wirklich so war, oder ob es ihm nur so vorkam.

Fest stand, dass er sich in diesem Moment von seinem Leben verabschiedete.

Er kannte das Schiff und seine Fluchtwege – und ihm fiel wirklich keine einzige Möglichkeit mehr ein, wie sie dieses Schiff unbeschadet verlassen konnten.

Auf dem Wasser schwamm brennendes Öl von acht Schlachtschiffen, dass einen Sprung von Bord genauso lebensbedrohlich machte, wie ein Verbleib auf dem Schiff.

Unter Deck Schutz zu suchen war genauso wenig vielversprechend – immerhin wurde das Schiff bombardiert und konnte jeden Moment sinken.

Mit vor Schock geweiteten Augen sah Harry, wie ein Leutnant einer Gruppe Soldaten helfen wollte, die freiliegenden Leitern nach oben zu gelangen. Nur wenige Sekunden später wurde er in Brust und Bauch getroffen und obwohl er seine Kameraden noch zum Weitergehen ermutigte, erlag er seinen Verletzungen binnen weniger Momente.

Da lag er nun, mit den kalten, starren Augen, in denen kein Leben mehr zu finden war.

Louis griff Harry am Arm und zog ihn hinter den anderen her, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich gehen wollten.

Sie schienen eingeschlossen zu sein.

Eingeschlossen in der buchstäblichen Hölle.

Louis klopfte auf Harry's Hose, die auf dem Weg Feuer gefangen hatte. Während sie stehen blieben, kamen ihnen Menschen entgegen, die so schrecklich entstellt waren, dass Harry das Gefühl einer anderen Realität überkam.

Als stünde er neben sich, nur um sich selbst dabei zu beobachten, wie er in den sicheren Tod rannte.

Denn ganz egal, wohin sie von nun an gehen würden: Es gab keinen Ausweg.

Es führte kein Weg von Bord dieses Schiffes.

„Denkt ihr, wir können es irgendwie ins Wasser schaffen?", rief Louis über die Schreie der Sterbenden hinweg.

Doch eine Antwort erübrigte sich bei einem Blick nach unten.

Die komplette Wasseroberfläche brannte, weil das Öl sich auf dessen Oberfläche verteilte.

Ein Sprung in die Flammen wäre der sichere Tod für alle vier Männer.

Vorsichtig griff Louis nach Harry's verwundeten Händen. „Egal, was passiert, wir dürfen uns nicht loslassen. Okay?"

Harry nickte.

Und dann wurde das Schiff von einer Explosion erschüttert, die es mehrere Meter in die Luft hob, um es dann wie einen hölzernen Stock in zwei Teile zu zerbrechen.
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Meine Lieben,
Danke für das fleißige Lesen & Voten. Ich bin so dankbar für jeden einzelnen von euch.🤍
Wie könntet ihr euch vorstellen, wird die Geschichte weitergehen?🤍

All the love,
Helena xx

Pearl HarborWo Geschichten leben. Entdecke jetzt