o5. Dir kann nichts passieren

150 42 17
                                    

Tatsächlich gingen Harry und Louis am Abend des gleichen Tages an den Strand, weit abseits der Militärbasis, damit niemand sie sehen konnte.

Harry war unsicher, und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er befürchtete schon jetzt, dass ihm eine erneute Panikattacke kurz bevorstand, obwohl er das Wasser noch nicht einmal berührt hatte.

„Wie bist du aufgewachsen?", wollte Harry von Louis wissen und musterte ihn einen Moment lang etwas genauer.

Louis dachte einen Moment lang über die Antwort auf diese Frage nach und ließ seinen Blick über das Wasser gleiten, das die Abendsonne mittlerweile hellrosa färbte.

„Mein Vater hat immer hart gearbeitet, um die ganze Familie irgendwie durchzubekommen", erinnerte sich Louis. „Deshalb habe ich ihn eigentlich kaum zu Gesicht bekommen. Er hat im ersten Weltkrieg in Flandern gekämpft und war von dort an dermaßen traumatisiert, dass er bei jedem Knallgeräusch zusammenzuckte und minutenlang um Luft rang, während sein ganzer Körper zitterte."

Harry blickte ihn mitleidig an. „Das muss schrecklich gewesen sein."

Louis nickte. „Er sagte immer, er wünsche noch nicht einmal seinem schlimmsten Feind, was er im Krieg gesehen hat."

Ein Moment der Stille erfüllte das Gespräch der beiden Männer.

Louis beobachtete den Wind, der mit Harry's braunen Haaren spielte. „Und du?", fragte er schließlich. „Was ist mit deinen Eltern?"

Harry zuckte die Schultern. „Eigentlich keine nennenswerten Geschichten", antwortete er. „Meine Eltern sind ganz normale Bürger und meine Schwester hat letztes Jahr ihr erstes Baby bekommen."

Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Schön", kommentierte er. „Klingt, als würde alles nach Plan laufen."

Harry zog die Augenbrauen zusammen. „Bei dir nicht?"

„Doch", antwortete Louis. „Aber seitdem ich zum Militär gegangen bin, sehe ich meine Eltern und Geschwister kaum noch."

„Wie viele Geschwister hast du?"

„Fünf."

„Fünf?", fragte Harry ungläubig nach und lachte. „Nimmst du mich gerade auf den Arm?"

„Nein", grinste Louis. „Ich habe fünf Schwestern."

Überrascht zog Harry die Augenbrauen nach oben. „Also war deine Mutter allein mit sechs kleinen Kindern, während dein Vater im Krieg war?"

„Ja", antwortete Louis, und er erinnerte sich wahrlich nicht gerne an diese Zeit zurück. „Sie hatte jeden Tag Angst, als sie die Post entgegennahm. Weil sie immer hoffen musste, dass keine Todesnachricht dabei war."

Harry schluckte. „Ich glaube, niemand, der das nicht selbst erlebt hat, kann sich vorstellen, was das bedeutet haben muss."

Louis seufzte. „Als mein Vater zurückkam, war er nicht mehr derselbe", erzählte er. „Ihm fehlte diese Leichtigkeit, die er vor dem Krieg gehabt hatte. Es war, als hätte er den Glauben an das Gute im Menschen verloren."

„Kein Wunder", murmelte Harry, während ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.

Er beobachtete die Wellen, die gemächlich ans Ufer schwappten.

Louis hielt inne und deutete auf das Wasser. „Ich glaube, hier ist eine gute Stelle."

Harry spürte, wie ihm mulmig wurde.

Vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen.

Louis griff sanft nach seinem Arm und dirigierte ihn in Richtung des Wassers. „Vielleicht sollten wir nach deinem heutigen Erlebnis gar nicht unbedingt schwimmen gehen", warf er ein und lächelte.

Erleichtert bemerkte Harry, wie die Spannung zwischen seinen Schulterblättern nachließ.

„Lass uns einfach nur ein bisschen am Strand sitzen und unsere Füße ins Wasser halten", schlug Louis vor, und Harry nickte.

Das sollte er schaffen.

Die Männer zogen sich ihre Schuhe aus und ließen sich nebeneinander im warmen Sand nieder.

Das Wasser umspielte Harry's Beine, und er spürte, wie das Unwohlsein in ihm nach oben kroch.

Aber es war kontrollierbar.

Er war nicht mit seinem ganzen Körper im Wasser, er musste sich keine Gedanken darüber machen, was sich unter ihm befinden könnte, und er fror nicht.

„Denkst du, du kannst dich hinlegen?", fragte Louis da plötzlich und Harry warf ihm einen fragenden Blick zu.

Konnte er das?

Er entschloss sich, es einfach zu versuchen.

Sein Herzschlag beschleunigte sich, aber er konzentrierte sich auf den warmen Sand zwischen seinen Fingern.

Louis legte sich neben ihn, dort wo Wasser auf Land traf, und die beiden Männer sahen sich einen Moment lang grinsend in die Augen.

Harry fühlte sich wohl in Louis' Nähe, und irgendwie schien mit ihm alles plötzlich so einfach zu sein.

Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend war zwar nicht verschwunden, aber er konnte sich auf Louis konzentrieren, diesen wunderbaren Mann, den er zwar erst seit ein paar Tagen konnte, allerdings jetzt schon in sein Herz geschlossen hatte.

Einen Moment lang berührten sich ihre Hände, doch Harry zuckte zusammen und zog sie erschrocken zurück.

Trotzdem entging ihm der Stromstoß nicht, den die sanfte Berührung durch seinen Körper geschickt hatte.

Als das Wasser schließlich weiter anstieg, umspielte es nicht nur seine Beine, sondern auch den Rest seines Körpers.

Harry fühlte sich unwohl, als das Wasser seinen Rücken nach oben bis zu seinem Nacken kletterte, um schließlich den Kopf mit dem welligen braunen Haar zu umspülen, und dann wieder abzuebben.

Seine Atmung beschleunigte sich, und ihm wurde schlecht.

Er spürte das Wasser zwischen seinen Fingerspitzen, wie es sie umspielte, als wollte es ihn verspotten.

„Versuch, das Gefühl auszuhalten", riet Louis und warf einen Blick in den lilafarbenen Himmel, wo bereits die ersten Sterne zu sehen waren. „Nimm das Wasser bewusst wahr. Dir kann nichts passieren."

Harry kniff die Augen zu, als die Erinnerung an jenen verregneten Tag auf dem Pazifik mit voller Wucht zu ihm zurückkehrte.

Louis bemerkte, dass der junge Soldat am ganzen Körper zitterte, obwohl es ein sehr warmer Abend war.

Er setzte sich auf und beugte sich vorsichtig über Harry, um ihm beruhigend über den Arm zu streichen. „Mach mal die Augen auf", flüsterte er, als er bemerkte, wie krampfhaft Harry sie zusammenkniff.

Harry atmete tief ein, öffnete die Augen und folgte Louis' Fingerspitze, die geradewegs auf den abendlichen Sternenhimmel zeigte, auf dem auch der Mond schon zu sehen war.

Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

Seine Angst mischte sich mit einem wohligen Kribbeln, als Louis seinen Arm auf und ab strich.

Er spürte, wie seine Muskeln sich ein Stück entspannten, und er betrachtete die vielen Sterne, die an diesem Abend über Pearl Harbor standen.

Und er spürte, wie Louis ihn ansah, und er erwiderte seinen Blick – und wieder war da dieses intensive Kribbeln in seiner Magengegend, das er nicht richtig deuten konnte.

Was er aber sehr wohl deuten konnte, war die Entspannung, die plötzlich seine Muskeln lockerte.

Er atmete aus, und seine Angst ließ ein Stück weit nach, während er Louis in die Augen sah.

Weil er sich wohl mit ihm fühlte.
________________
Hallo meine Liehen und einen schönen Sonntag wünsch ich euch! Na, wie war euer Wochenende?

Viel Spaß beim Lesen! Schreibt mir doch in die Kommentare, was ihr denkt :)

All the love,
Helena xx

Pearl HarborWo Geschichten leben. Entdecke jetzt