Der Verzweiflung in seinem Inneren konnte Harry noch nicht einmal einen Namen geben.
Sie schien ihn in der Mitte auseinander zu reißen.
Ja.
Zerrissenheit.
Er spürte sie am ganzen Körper.
Die Tränen kamen, ohne dass er sie überhaupt bemerkte.
Langsam, und dann immer schneller suchten sie sich einen Weg über die leichenblassen Wangen.
Er fühlte alle Emotionen auf einmal - dann plötzlich fühlte er gar nichts mehr.
Die Welt schien plötzlich aufgehört haben, sich zu drehen.
Alles hatte plötzlich seinen Sinn verloren.
Die Dinge erschienen ihm surreal - als stünde er neben sich.
Als könnte er sich dabei beobachten, wie er auf den Stufen zum Eingang des Lazaretts auf den Boden sank.
Louis und Liam ließen sich neben ihm nieder.
Es zerriss ihnen das Herz, den jungen Mann so gebrochen zu sehen, nach allem, was passiert war.
Und ihnen erging es nicht anders.
Es war die Stunde null.
Alles auf Anfang.
Ein Anfang, der so vielen jungen Männern ihr Leben gekostet hatte.
„Das ist alles meine Schuld", wimmerte Harry, als er den Kopf in die zitternden Hände lag, „Ich hätte nach ihm suchen sollen, nachdem wir uns verloren haben. Vielleicht hätte er den Weg ins Krankenhaus dann schneller gefunden."
Ein tiefes Seufzen drängte sich auf Louis' Brust, als er einen Arm um die Schultern seines Freundes legte.
Ihn so zu sehen riss ihm beinahe das Herz aus der Brust.
„Die Verletzung war von Anfang an tödlich", erklärte er und strich ihm eine Strähne des braunen Haares aus dem Gesicht - oder zumindest das, was davon noch übrig war.
„Außerdem hat niemand in dem Chaos den Überblick behalten. Die Explosion hat das Schiff in zwei Teile zerlegt", setzte Liam hinzu und klopfte seinem Freund brüderlich auf die Schulter. „Es ist nicht deine Schuld."
Harry konnte die neue Realität kaum begreifen.
Er konnte und wollte sich ein Leben ohne Niall nicht vorstellen.
Er wusste einfach nicht, wie er jetzt weitermachen sollte.
Ohne die Person, die immer für ihn da gewesen war.
Die Person, die ihm immer Ratschläge in den schwierigsten Situationen gegeben hatte und von der er wusste, dass er alles für ihn getan hätte, ganz egal, wie hoch der Preis dafür war.
Die einzige Person, die bedingungslos zu ihm gestanden war.
Der Verlust seines besten Freundes riss ein Loch in sein Inneres, das er kaum ertragen konnte und von dem er sich sicher war, es nie wieder füllen zu können.
Stille.
Mehrere Minuten lang.
Dann räusperte Liam sich. „Sergeant Johnson ist bei dem Angriff nachweislich ums Leben gekommen", erklärte er. „Man hat lediglich seinen Ehering gefunden, der aufgrund der Hitze mit dem Material der USS Arizona verschmolzen war."
Harry zeigte nach außen hin keine Regung.
Doch in seinem Inneren tobte der Sturm.
Er wusste nicht, welches Gefühl richtig war, welches falsch oder vielleicht sogar höchst bedenklich.
Sein Inneres konnte nicht verarbeiten, was geschehen war.
Er sah seine Freunde an und schüttelte fassungslos den Kopf.
„Es ist ein Wunder, dass wir überlebt haben", flüsterte er mit bebender Stimme.
Tage später hatten die jungen Männer die Möglichkeit, sich von ihren toten Kameraden zu verabschieden.
Zumindest von denjenigen, deren sterbliche Überreste hatten geborgen werden können.
Einige befanden sich noch immer eingeschlossen in den Bäuchen der Kampfschiffe, die auf dem Grund des Hafens lagen.
Alle anderen jedoch lagen in massiven Holzsärgen, jeder von ihnen bedeckt mit einer amerikanischen Flagge.
Als Harry die Flughalle betrat, in der sie aufgestellt waren, konnte er kaum fassen, wie viele Särge plötzlich vor ihm standen.
Selbst die größte Halle in Pearl Harbor war zu klein gewesen, sodass einige von ihnen auch draußen standen.
Seine rechte Hand, in der er eine weiße Rose hielt, zitterte unkontrollierbar.
Wie in Trance ging er zwischen den Reihen hindurch und suchte nach den Namen derjenigen, die er gekannt hatte.
Auf Niall's Sarg stand ein Bild, das den jungen Soldaten zeigte, wie er in die Kamera grinsend am Strand von Pearl Harbor saß, genau so, wie er es bis zuletzt getan hatte.
Harry spürte, wie sein Herz einen Schlag lang aussetzte, wie er die Realität noch immer nicht begreifen konnte.
Selbst jetzt, Tage später, waren die Geschehnisse noch nicht zu ihm durchgesickert.
Die USS Arizona hatte noch drei weitere Tage gebrannt – Drei!
Harry spürte, dass er keine Chance hatte, je wieder einen Fuß auf ein Schiff – geschweige denn ein Kriegsschiff – zu setzen.
Seine Angst vor dem Wasser war in den Tagen nach dem Angriff so schlimm gewesen, dass er sich noch nicht einmal ohne Beruhigungsmittel hatte die Zähne putzen können.
Nachts schlief er nicht.
Er dachte nach.
Er spielte die Szenen erneut durch, fragte sich, ob er irgendetwas hätte anders machen können.
Ob es etwas geändert hätte, wäre er nicht selbst so ängstlich gewesen.
Aber wer konnte einem sagen, was in einer solchen Situation richtig und was falsch war?
Harry zitterte am ganzen Körper, als er die weiße Rose auf Niall's Sarg ablegte.
Sein Schmerz zwang ihn in die Knie.
Unaufhaltsam flossen die Tränen über seine Wangen.
Und immer begleitete ihn dabei ein Gedanke: Warum war er so kurz vor Kriegsausbruch im Schlechten mit ihm auseinandergegangen?
War er zu Recht wütend gewesen?
Hätte er vielleicht das Gespräch zu seinen Freunden suchen sollen?
Was hatte er nur alles falsch gemacht?
Könnte Niall noch leben, wenn er mit dem Kopf bei der Sache gewesen wäre?
Harry lehnte den Kopf an den Sarg seines besten Freundes und ahnte, dass ihn diese Frage bis an das Ende seines Lebens verfolgen würde.
_____________
Hallo meine Lieben und einen wunderschönen Donnerstagabend wünsch ich euch.
Danke für's Lesen - der Epilog folgt die Tage, spätestens nächste Woche.🤍All the love,
Helena xx
DU LIEST GERADE
Pearl Harbor
FanfictionIn den schicksalhaften Tagen des Jahres 1941, während sich die Welt inmitten von Spannungen und Unsicherheit befindet, entfaltet sich in Pearl Harbor eine Geschichte von Mut, Liebe und Vertrauen. Louis wird neu in Pearl Harbor stationiert und lernt...