25. Zufall?

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Für den nächsten Abend verabredeten Harry und Louis sich am Strand miteinander.

Harry erholte sich langsam von der missglückten Übung an der Sprossenwand, und Louis stellte erleichtert fest, dass er es mittlerweile wieder schaffte, bis zur Hüfte ins Wasser zu gehen.

Die beiden jungen Soldaten küssten sich leidenschaftlich.

Harry hatte seine Beine um Louis' Hüfte geschlungen, während dieser ihn mit beiden Armen festhielt.

Als sie sich schließlich voneinander lösten, sahen sie sich mit einem Blick in die Augen, den keiner von beiden wirklich deuten konnte.

Es lag viel Zuneigung darin, aber irgendwie auch etwas, das wie Unsicherheit aussah.

„Hast du manchmal Angst?", wollte Harry schließlich von Louis wissen.

Dieser dachte einen Moment lang über eine passende Antwort nach, nickte dann aber. „Natürlich", gab er ehrlich zur Antwort. „Aber darüber darfst du dir nicht so viele Gedanken machen. Damit machst du dich nur verrückt."

Ein tiefes Seufzen drängte sich aus Harry's Brust. „Wenn das nur so einfach wäre", sagte er schließlich, „Ich meine ... Was, wenn uns die ganze Sache bald um die Ohren fliegt?"

„Dann wird es dafür auch eine Lösung geben", entgegnete Louis mit einem Lächeln auf den Lippen. „Wir werden schon einen Weg finden."

„Das können wir nicht", gab Harry zurück. „Die Situation zwischen Japan und den USA spitzt sich immer weiter zu und man bereitet sich auf einen Konflikt vor. Niemand kann sagen, was aus uns werden wird."

Louis seufzte und musste seinem Freund zustimmen. „Vielleicht kann der Konflikt ja doch friedlich geklärt werden", tröstete er. „Schließlich kann niemand ernsthaft einen Krieg wollen."

Harry zuckte die Schultern. „Das dachte ich auch", antwortete er. „Aber schau doch bitte nach Europa."

Louis konnte es ihm noch nicht einmal verdenken, dass er verunsichert war. „Ich weiß, Harry, aber deshalb haben wir uns freiwillig bei der Armee gemeldet..."

Der Satz traf Harry bis ins Mark.

Er hatte sich bei der Marine gemeldet, weil das Schwimmen seine größte Leidenschaft gewesen war, und nicht, um im Zweifelsfall in einem weiteren Weltkrieg zu kämpfen.

Die Geschichte hatte gezeigt, dass die Menschen nichts aus ihr lernten.

Es war ganz egal, wie viel Menschenleben ausgelöscht und wie viel Blut vergossen wurde.

Es würde immer wieder Wahnsinnige an der Spitze verschiedener Länder geben, die im Zweifelsfall einen Krieg befürworten würden.

Man hatte ganz einfach nichts gelernt aus dem Leid und dem Elend, das der Krieg über die Menschen brachte und all die Dinge, die sie verloren hatten.

Harry's Vater hatte damals im ersten Weltkrieg an der Westfront in Frankreich und Belgien gekämpft.

Eines Tages hatte er zu ihm gesagt: Noch nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünsche ich, was ich im Krieg gesehen habe.

Diese Worte hallten in Harry's Gehirn nach, während Louis ihn noch immer wartend anblickte und wahrscheinlich darauf hoffte, dass er ihm endlich eine Antwort geben würde.

„Ja", sagte Harry also, „Ich weiß. Im Zweifelsfall müssen wir unser Land verteidigen. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich darauf freue, wenn dieser Zweifelsfall eintritt."

Louis' Gesichtsausdruck wurde weicher. „So habe ich das doch gar nicht gemeint."

Harry verdrehte die Augen. Es war doch eigentlich auch egal.

Die militärischen Spannungen waren deutlich zu spüren, und niemand zweifelte daran, dass sie das Potential zu einer völligen Eskalation hatten.

Allerdings hatte man noch immer Vertrauen in die Regierung und deren Entscheidungen.

Ein schrecklicher Gedanke machte sich in ihm breit. „Was, wenn ich im Ernstfall nicht schwimmen kann?", sagte er da plötzlich. „Was, wenn meinetwegen Leute umkommen?"

Louis schüttelte entschieden den Kopf. „Du hast doch bereits erwiesen, dass du im Ernstfall sehr wohl schwimmen kannst."

Entmutigt ließ Harry die Schultern hängen. „Du verstehst das einfach nicht", entgegnete er aufgebracht. „Dass ich durch den Schacht tauchen konnte war reiner Zufall."

„Zufall?", wiederholte Louis ungläubig. Er spürte, wie er langsam die Geduld verlor. „Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?"

Harry zuckte resigniert die Schultern. Seine Stimme klang niedergeschlagen.

„Ich habe das alles nur geschafft, weil du mir wochenlang geholfen hast", beharrte Harry. „Wäre das nicht so eine dringliche Situation gewesen und hätte ich mehr Zeit gehabt, nachzudenken, wäre ich doch niemals freiwillig ins Wasser gestiegen und durch diesen engen Schacht getaucht."

„Das mag schon sein", stimmte Louis zu. „Aber die Hauptsache ist doch, dass du es geschafft hast. Das zeigt doch, dass das Ganze noch immer in dir steckt."

Ein tiefes Seufzen.

„Das weiß ich", sagte er. „Aber ich weiß nicht, wie ich drankommen soll."

„Deswegen sollst du ja auch zum Arzt gehen", wiederholte Louis, wahrscheinlich schon zum zehnten Mal.

Harry bemerkte den gereizten Unterton in dessen Stimme und schuf einen kleinen Abstand zwischen den Männern.

Louis' kühle Art und Weise, auf seine Sorgen zu reagieren, verletzte ihn.

Andererseits konnte er ihn auch verstehen.

Es musste unendlich ermüdend sein, sich mit ihm und seinen Ängsten auseinandersetzen zu wollen, wenn er keine fremde Hilfe annehmen wollte.

Am liebsten hätte Harry nie wieder mit irgendjemandem über diese Sache geredet.

Die Leute verstanden ihn einfach nicht.

Also ging er zitternd zurück zum Strand und griff nach seinem Handtuch.

Heute kam ihm das Wasser deutlich kälter vor als sonst.

Er sah auf das Meer hinaus, und in ihm machte sich ein Gefühl breit, das er seit seinem Unfall nicht ein einziges Mal erlebt hatte.

Melancholie.

Das Gefühl, die Zeiten zu vermissen, in denen er unbeschwert ins Wasser hatte steigen können, ohne dabei anderen Menschen pausenlos zur Last zu fallen.

Er wollte doch einfach nur wieder normal schwimmen können.
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Einen schönen Donnerstagabend meine Freunde🤍
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen.🫶
Was denkt ihr, wie es weitergehen wird?🥺 Bin gespannt was ihr so denkt 🥰🤍

All the love,
Helena xx

Pearl HarborWo Geschichten leben. Entdecke jetzt