Gegen halb fünf kehrte Harry niedergeschlagen in den Gemeinschaftsschlafraum zurück.
Er versuchte, niemanden anzusehen, während er sich möglichst leise samt seiner Uniform zurück in sein Bett legte.
Er fröstelte und eigentlich hatte er Hunger.
Essen konnte er trotzdem nicht – und an Schlaf war sowieso nicht zu denken.
Seine Angst war einfach zu groß.
Irgendwann wurde Niall neben ihm wach, als er bemerkte, wie unruhig Harry sich hin- und her wälzte.
Er seufzte und legte seinem Freund einen Arm auf die Schulter. „Komm, lass uns an die frische Luft gehen", flüsterte er. „Das kann sich doch keiner mit ansehen."
Niall zerrte seinen besten Freund mit nach draußen an die frische Luft. Genau dort hin, wo er eigentlich gerade hergekommen war.
„Was ist denn los mit dir?", wollte Niall mit einem besorgten Ausdruck auf dem Gesicht wissen.
Harry wich seinem Blick aus. „Ich kann nicht schlafen."
„Das sehe ich", murmelte Niall und verschränkte die Arme, ehe er sich gegen die Außenwand der Kanonen lehnte. „Ist die Angst so schlimm?"
Er konnte sehen, wie durcheinander Harry war.
Sein ganzer Körper bebte und ihm war anzusehen, dass er in den letzten Wochen an Gewicht verloren hatte. „Ich habe das Gefühl, wenn ich einschlafe, bin ich in Gefahr", erklärte er mit zitternder Stimme. „Dann kann ich nichts tun, wenn etwas passiert."
Niall dachte einen Moment lang über eine passende Antwort nach.
Aber was – zur Hölle – sollte er in einem solchen Moment zu Harry sagen?
Er hatte keine Ahnung, wie er ihm helfen konnte, abgesehen davon, die Sache so schnell wie möglich aufzuklären.
Aber davon konnte er ihm unmöglich erzählen.
Schon gar nicht hier, mitten auf dem offenen Südpazifik.
Er wollte keine weiteren Panikattacken riskieren.
„Es wird nichts passieren, Harry", versicherte er ihm also und legte ihm brüderlich einen Arm um die Schultern. „Du bist in Sicherheit."
„Es fühlt sich aber nicht so an", entgegnete der junge Soldat prompt.
„Dir kann nichts passieren", beharrte Niall und schüttelte den Kopf. „Vertrau mir."
„Und wenn das Schiff sinkt?"
Irritiert zog Niall die Augenbrauen zusammen. „Wieso sollte es sinken?"
„Ich weiß es nicht", gab Harry zur Antwort und zog verunsichert die Schultern nach oben. „Man kann nie wissen, was passiert."
„Harry..."
Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Niall eine derart stark ausgeprägte Angst erlebt.
Er konnte sich nicht erklären, warum Harry so sehr litt.
Immerhin konnte er sich an die Tage erinnern, an denen Harry noch unbeschwert ins Wasser gegangen war.
Generell war Harry früher viel unbeschwerter gewesen.
Er hatte gelacht, von Herzen gelacht, und manchmal schien es Niall, als hätte er überhaupt keine schlechten Tage.
Der Ehrgeiz, mit dem er seinen Dienst in der Marine antrat, war bemerkenswert.
Niall hatte ihn immer um seine Motivation beneidet.
Jetzt kam er morgens kaum aus dem Bett und jede Schwimmübung bedeutete Ungewissheit und die Frage, ob sie wieder mit einer Panikattacke enden würde oder nicht.
Eine seltsame Vorstellung für Niall.
Harry schien eine solche Angst zu bekommen, dass ihm das Atmen schwerfiel. Manchmal bekam er gar keine Luft mehr und in seinen Augen spiegelte sich nackte Panik.
Obwohl Niall diese Situationen mit seinen eigenen Augen gesehen hatte, hatte er Schwierigkeiten, nachzuvollziehen, was in diesen Momenten in Harry vorging.
Was er allerdings wusste war, dass das keinen wirklichen Unterschied machte.
Harry brauchte seine Hilfe, und er brauchte sie mehr als jemals zuvor.
Er war in Not, aus der er sich selbst nicht mehr befreien konnte.
Genau aus diesem Grund hatte Niall es sich zur Aufgabe gemacht, seinem besten Freund aus dieser schweren Zeit zu helfen.
Dann bemerkte er, dass plötzlich Harry's Augen feucht wurden.
Besorgt zog er die Augenbrauen zusammen. „Was..."
„Geht ihr mir aus dem Weg?", platzte es aus Harry heraus.
Entschieden schüttelte Niall den Kopf, obwohl er ganz genau wusste, was Harry meinte. „Nein, natürlich nicht", beteuerte er, „Wie kommst du denn darauf?"
Harry schniefte. „Ich wollte euch nicht so sehr belasten..."
Niall spürte, wie sein Herz vor Mitgefühl beinahe überlief. „Aber das tust du doch gar nicht", widersprach er und nahm ihn in den Arm. „Was wäre ich für ein Freund, wenn ich dir nicht beistehen würde, wenn du Angst hast?"
Harry drückte seinen besten Freund fest an sich.
Er wusste nicht, was er noch sagen sollte, aber seine Nähe tat ihm gut.
Niall strich sanft über seinen Rücken, während er die Lippen fest zusammenpresste.
Am liebsten hätte er ihm sofort die Wahrheit erzählt.
Er konnte nicht in Worte fassen, wie schwer es ihm fiel, es nicht zu tun.
Schließlich atmete er einmal tief durch. „Ich bin für dich da, Harry. Immer."
Vor dem Morgenappell war Louis fieberhaft auf der Suche nach Harry.
Er musste drei Runden um das Deck drehen, bis er ihn endlich fand.
Sanft berührte er seinen Arm. „Können wir reden?"
Harry sah ihn einen Moment lang verwundert an, willigte dann allerdings ein und die Männer zogen sich zurück.
Louis sah seinem Freund entschuldigend in die Augen. Niall hatte ihm erzählt, wie aufgelöst er am frühen Morgen gewesen war.
„Es tut mir leid...", begann er also. „Weißt du, mein Verhalten in den letzten Tagen war nicht richtig."
Harry hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als wolle er sein Herz vor weiteren Verletzungen schützen. „Was ist denn bloß los mit dir, Louis?", wollte er wissen. „Ich erkenne dich gar nicht wieder."
Einen Moment lang dachte Louis nach, dann zuckte er die Schultern. „Mir wurden die letzten Tage wohl einfach zu viel."
„Du lügst", schlussfolgerte Harry trocken. „Es gibt irgendetwas, das du mir nicht erzählst."
Louis schüttelte den Kopf. „Quatsch, wie kommst du denn darauf?"
Harry's Antennen waren fein.
Zu fein.
„Weil du dich seltsam verhältst, Louis."
Ein tiefes Seufzen drängte sich aus seiner Brust. „Es ist eben nicht so einfach..."
„Mit mir?", wollte Harry mit einem verletzten Ausdruck auf dem blassen Gesicht wissen.
„Nein, so war das doch gar nicht gemeint...", versuchte Louis zu beschwichtigen, doch Harry schien ihm kein Wort zu glauben.
Er fühlte sich wie eine Belastung.
Nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für seine Mitmenschen.
Und so blieb der Streit ein weiteres Mal unausgesprochen.
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Einen schönen Donnerstagabend wünsch ich euch!♥️
Was sagt ihr zu dem Kapitel?All the love,
Helena xx
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Pearl Harbor
FanficIn den schicksalhaften Tagen des Jahres 1941, während sich die Welt inmitten von Spannungen und Unsicherheit befindet, entfaltet sich in Pearl Harbor eine Geschichte von Mut, Liebe und Vertrauen. Louis wird neu in Pearl Harbor stationiert und lernt...