30. Oktober 1821
Indischer Ozean„Jeder Mensch hat seinen Preis."
~ Robert WalpoleAnne Bonny
„Jack", hauchte sie leise, da sein Gesicht das Letzte war, an das sie sich erinnerte, bevor der Schmerz sie übermannt hatte und sie in eine endlose Schwärze gefallen war.
Selbst als sie nun die Augen öffnete, dominierte Dunkelheit ihre Umgebung. Lediglich das Flackern zweier Petroleumlampen und das vertraute Wanken des Schiffes verrieten ihr, dass sie nicht in einer dieser gottverlassenen Zellen im Bordell hockte. Nein, sie war zurück auf der Searose. Sie hatten es geschafft.
Sie wollte lächeln, doch ihre Mundwinkel rührten sich keinen Millimeter mehr, als sie sich der männlichen Person gewahr wurde, die aus den Schatten trat und sich über sie beugte. Licht blendete sie, als die Gestalt es über sie hielt. Sie musste die Augen zusammenkneifen. War sie nicht in ihrer Kajüte?
Verflucht ... was ...?
Sie erstarrte, als sich plötzlich eine Hand über ihren Körper bewegte. Prüfend. Ihr Herz begann unter ihrer abgebundenen Brust zu rasen, die nun von fremden Fingern erkundet wurde.Sofort blitzten Bilder aus einer Erinnerung auf, die sie all die Monate erfolgreich verdrängt hatte. Sie bildete sich ein, den alkoholischen Mundgeruch zu riechen. Er wurde so intensiv, dass es sie zweifeln ließ, ob es nicht doch echt war. Ob sie in Wahrheit nicht doch noch im Freudenhaus in Harwich auf dem Boden lag und sie sich nur in fremde Welten geflüchtet hatte, um der Realität nichts ins Auge blicken zu müssen. Ihr Herz schmerzte. Waren ... waren all die Momente mit Jack nur eine Illusion gewesen?
Die Finger streiften über den oberen Bund der Leinen und zupften daran. Anne wurde übel. Unglaublich übel. Sie wollte etwas dagegen tun. Wollte schreien, wollte treten. Doch sie blieb einfach nur auf der ... ja, es war eine Pritsche, auf der sie lag! Kein Dielenboden! Sie war nicht im Bordell! Sie war auf der Searose! Und der Mann, der sich über sie beugte ...
Nun erkannte sie sein Gesicht. „Custerly", sagte sie seinen Namen laut, die Stimme heiser und die Worte kratzten in ihrer Kehle.
Ertappt wich der Schiffsarzt zurück. Offenbar hatte er gedacht, sie wäre noch immer nicht wieder bei Bewusstsein. War er um die Nase kreidebleich geworden oder wirkte es nur des schlechten Lichtes wegen so?
Ihr Herz galoppierte noch immer in ihrer Brust. Er hatte sie berührt. Er hatte ihr Geheimnis entdeckt. Er wusste es. Verdammt ... er wusste es ... und er war keiner, dem sie vertraute.
„Custerly", wiederholte sie seinen Namen, als er sich umdrehte um zu verschwinden.
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Dust and Water
Historical FictionWir schreiben das Jahr 1801, als in England die junge Anne Bonny als uneheliche Tochter eines Richters das Licht der Welt erblickt. Verstoßen und geächtet von der Stadtgemeinde, flieht sie als sie älter wird und lernt auf ihrer Reise Jack Calico ken...