03. Dezember 1821
Indischer Ozean„Strafe hasst man, aber die Sünde liebt man."
~ Martin LutherAnne Bonny
Ein kalter Morgenwind wehte von Norden her und spielte mit ihren kinnlangen Haaren. Die schwarzen Locken waren zurückkehrt und auch wenn jene sie weiblicher aussehen ließen, weigerte sie sich, sie wieder abzuschneiden. Zu sehr hatte sie sie vermisst.
Ihre Füße trugen sie über die Planken, hin zum Treppenabgang und anschließend zum Lagerraum. Ungesehen kraulte sie der Ziege zwischen den Ohren, bevor sie sich an den Kisten bediente. Viel Frisches aus Indien war nicht mehr übrig, weshalb sie auf das harte Brot zurückgriff, das, wenn man es in Wasser oder Kaffee tunkte, sehr wohl noch essbar war. Nicht unbedingt lecker, aber es sättigte.
Sie steckte es sich in die Tasche, bevor sie ihren weiteren Weg aufnahm. Die Stufen, die zur Bilge hinabführten, kletterte sie mittlerweile flink wie ein Affe hinunter. Sie kannte jede einzelne Sprosse, wusste bei welcher sie achtsam sein musste und ab welcher es rutschig wurde.
Der modrige Geruch des Leckwassers schlug ihr entgegen. Früher hatte ihr jener den Magen umdrehen wollen, heute begrüßte sie ihn schon fast. Die Bilge war der einzige Ort auf diesem Schiff, an dem sie tatsächlich Ruhe genießen konnte. An dem sie niemand störte.
Und wie sie in den letzten zwei Wochen herausgefunden hatte, eignete er sich auch bestens, um unerwünschte Passagiere zu verstecken.Sobald das schleimig, grünliche Wasser ihre Hosenbeine umspielte, band sie sich das Haar im Nacken zusammen. „Bin alleine", raunte sie in das dämmrige Licht hinein, bevor sie zur Pumpe hinüber schlenderte, um dort ihrer Arbeit nachzugehen.
Zwei Silhouetten lösten sich aus den Schatten heraus und traten auf sie zu.
„Wie lange noch?", hörte sie den jungen Mann fragen, dem dieser stinkende und finstere Raum wie das Verlies in Ratnagiris Bordell erscheinen musste.„Wir sind auf offener See", entgegnete Anne ihm, während sie das angesammelte Wasser in den Ozean entließ. „Ich werde heute mit ihm reden und es ihm sagen."
„Versprichst du es?"
Anne biss sich auf die Unterlippe. Gluckernde Geräusche erfüllten den Schiffsbauch. „Aye." Schon mehrere Male hatte sie sich vorgenommen Jack zu beichten, dass sie Jaspal und seine Schwester in der Bilge versteckte. Doch immer wieder war etwas dazwischen gekommen, oder der Moment hatte sich doch nicht passend angefühlt.
Aber sie wusste auch, dass sie den beiden nicht länger zumuten konnte hier unten auszuharren. Umgeben von miefenden Gerüchen, ohne Tageslicht.
DU LIEST GERADE
Dust and Water
Historische RomaneWir schreiben das Jahr 1801, als in England die junge Anne Bonny als uneheliche Tochter eines Richters das Licht der Welt erblickt. Verstoßen und geächtet von der Stadtgemeinde, flieht sie als sie älter wird und lernt auf ihrer Reise Jack Calico ken...